Hiobs Brüder
»Habt keine Angst. Weder ich noch meine Gefährten sind gekommen, euch heimzusuchen, denn ich weiß, dass ihr gute Christenmenschen voller Barmherzigkeit seid.«
Vater Edgar packte seinen Sohn an der Schulter und riss ihn zurück. Mit leicht geöffnetem Mund starrte er auf den vorgeblichen Heiligen hinab, der ihm so milde zulächelte. Dann sank der Dorfpfarrer von Gilham auf die Knie, faltete die Hände und reckte sie zum Himmel empor.
Simon hatte ein paar Stunden geschlafen – wie immer nach einem Anfall zutiefst erschöpft. Als er aufwachte, fand er sich in eine raue Decke gehüllt auf einem Bett aus frischem, weichem Stroh, und Losian wachte an seiner Seite.
»Was ist passiert?«, fragte der Junge schlaftrunken.
»Du hattest einen Anfall.«
»Ach ja.« Er schloss die Augen wieder. »Das Sonnenlicht auf dem Tümpel auf der Dorfwiese …«
»Was?«
»Ein Sonnenstrahl kam hervor und hat auf der Wasseroberfläche gefunkelt. So was hat mir früher schon Anfälle beschert.« Und er hatte nicht rechtzeitig weggeschaut, weil ein Bauer, der direkt an dem Tümpel stand, plötzlich einen Bogen gespannt hatte … Er fuhr erschrocken auf. »Die Zwillinge … der Kerl mit der Axt … Was ist passiert?«
Losian legte ihm die Hände auf die Schultern und schob ihn wieder auf das herrlich weiche Strohbett hinab. »Es ist alles in Ordnung. Dein Anfall hat uns gerettet, wenn du so willst. Er war in dem Moment vorbei, als King Edmund dir die Hand aufgelegt hat. Und jetzt glauben sie, ein Wunder sei geschehen und ein echter Heiliger in Gilham zu Besuch.«
Simon schnaubte belustigt. »Ich hätte nicht gedacht, dass die Fallsucht sich mal als so nützlich erweisen würde.«
»So sind die Wege des Herrn, würde King Edmund jetzt wohl sagen. Denkst du, du kannst aufstehen? Sie haben beschlossen, uns zu bewirten, statt uns zu steinigen. Alle warten auf dich.«
»Sicher kann ich aufstehen. Nur hab ich nichts an. Ich nehme an, ich hab mir wieder mal die Hosen vollgemacht.« Er drehte den Kopf weg. Diese Begleiterscheinung der Fallsucht war es, die er am meisten fürchtete und hasste.
»Du hast keinen Grund, beschämt zu sein, Simon.«
»Oh, natürlich nicht. Du hast gut reden, Mann«, presste der Junge wütend hervor. »Wenn man seine Würde verliert, verliert man seine Ehre. Ganz gleich, was du alles vergessen haben magst, ich schätze, du weißt noch, was das bedeutet.«
»Sei versichert. Wer sich selbst verloren hat, weiß alles, was es über den Verlust von Würde und Ehre zu wissen gibt. Mir scheint, es gibt nur ein Mittel dagegen.«
Simon sah ihn wieder an. »Jetzt bin ich aber wirklich neugierig.«
»Du darfst deine Ehre nicht von dem abhängig machen, was andere in dir sehen oder zu sehen glauben. Sie ist eine Sache allein zwischen dir und Gott.«
»Pah«, machte Simon. »Was habe ich von meiner Ehre, wenn sie ein Geheimnis zwischen mir und Gott ist?«
»Seelenfrieden, nehme ich an. Aber so genau kann ich dir das nicht sagen, weil ich die nötige Weisheit für diese Art von Ehrgefühl selbst nicht besitze.« Er lächelte auf ihn hinab, und weil es so selten geschah, hörte es nie auf, Simon zu verblüffen, wie grundlegend ein Lächeln dieses Gesicht veränderte. »Im Übrigen, was deine Kleider angeht: Der wackere Robert mit der Axt ist fast über die eigenen Füße gestolpert in seinem Eifer, dir saubere Hosen und seinen besten Kittel zu borgen. Sie liegen da vorn auf dem Schemel. Ich bin überzeugt, du warst immer schon versessen darauf, mal ein Paar dieser kleidsamen angelsächsischen Beinlinge zu tragen.«
Simons Mundwinkel verzogen sich nach oben, und er kicherte, obwohl ihm eigentlich gar nicht danach zumute war. »Großartig. Verschwinde schon, Losian. Ich brauche keine Amme, die mir beim Anziehen hilft.«
»Komm in die Kirche, wenn du bereit bist.«
Simon wartete, bis er allein war, dann setzte er sich auf und machte eine Bestandsaufnahme. Er hatte sich die Zunge blutig gebissen, aber nicht so schlimm wie bei früheren Gelegenheiten. Arme, Schultern und Beine schmerzten, als hätte er den ganzen Tag auf dem Feld geschuftet, und er wusste, morgen würde er einen mörderischen Muskelkater haben. So war es immer. Doch er fühlte sich ausgeruht und kräftig genug, um aufzustehen.
Er befand sich in einer der einräumigen Hütten, die die Bauern von Gilham bewohnten, stellte er fest. In ihrer Mitte brannte ein Feuer in einem kleinen Herd, und auf dem Tisch daneben stand ein Eimer Wasser. Simon wusch sich,
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