Hiobs Brüder
nicht. Er krümmt sich, weil er Schmerzen hat.«
Losian legte Oswald die Hand auf die Schulter. »Was hast du, mein Junge?«
Oswald schlug die Augen auf und sah ihn an. Er konnte nicht sprechen, aber in seinem Blick lag ein Flehen, das Losian die Kehle zuschnürte.
»Lasst ihn uns zum Kloster tragen«, schlug King Edmund vor, scheinbar die Ruhe selbst. »Wenn irgendwer ihm helfen kann, dann die Brüder dort.«
Losian zögerte. Er wusste, sie hatten jetzt keine Zeit, das ewig gleiche Streitgespräch über Klöster zu führen, aber an seinen Bedenken hatte sich nichts geändert.
»Kann ich Euch vielleicht behilflich sein?«, fragte eine fremde Stimme auf Normannisch.
Losian fuhr herum und blinzelte verwundert. Vor ihm stand eine höchst seltsame Erscheinung: ein Mann in einem langen, dunklen Gewand mit einem bärtigen Gesicht, langen Haarsträhnen vor den Ohren und einem eigentümlich spitzen Hut. Die dunklen Augen verharrten nur einen Moment auf Losian, ehe der Blick sich auf Oswald richtete.
»Wir könnten weiß Gott Hilfe gebrauchen«, antwortete Losian. »Dieser Junge hier ist völlig entkräftet und hat …«
Der Mann mit dem eigentümlichen Hut hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, kniete sich neben Oswald auf die Erde und drückte sein Ohr auf dessen Brust. Das wird immer sonderbarer, dachte Losian und versuchte das Gefühl von Unwirklichkeit abzuwehren, das ihn beschleichen wollte.
Der Fremde hob den Kopf. »Es ist sein Herz«, erklärte er knapp. »Schnell. Hebt ihn auf und folgt mir.«
Losian schob einen Arm unter Oswalds Knie, einen unter seine Schultern und hob ihn hoch. Es ging besser als erwartet. Sie alle waren mager geworden, aber Oswald, so kam es ihm mit einem Mal vor, war ausgemergelter als alle anderen. Er schien kaum mehr als ein Kind zu wiegen. »Na los, kommt schon«, raunte er den anderen zu. »Pass ja auf die Kette auf, Wulfric.«
Dann folgte er dem seltsamen Mann, der die Straße Richtung Burg eingeschlagen hatte.
»Losian, weißt du, was für ein Kerl das ist?«, protestierte King Edmund gedämpft, der neben ihm herlief.
»Was meinst du?«
»Er meint, dass Oswalds Wohltäter ein Jude ist«, mischte Regy sich ein. »Und die Angelsachsen halten keine großen Stücke auf die Juden, weil sie glauben, das Blut Jesu Christi klebe an ihnen.« Er hatte Normannisch gesprochen und sich keinerlei Mühe gegeben, die Stimme zu senken.
Doch der jüdische Mann, der mit eiligen Schritten vor ihnen einherging, gab durch nichts zu erkennen, ob er ihn verstanden hatte. Er führte sie ein Stück Richtung Burg, bog dann nach rechts in eine Gasse und hielt vor einem großzügigen, solide gebauten Haus. Im Türpfosten war eine kleine, viereckige Öffnung, die er mit den Fingern der Rechten berührte, die er dann mit ein paar fremdländischen gemurmelten Worten kurz an die Lippe führte. Erst als er den Riegel zurückzog und die Tür öffnete, sagte er zu Regy: »Es gibt auch genügend Normannen, die das glauben.« Seine Stimme war vollkommen ausdruckslos, genau wie seine Miene.
Regy schenkte ihm ein schauriges Lächeln. »Nun, falls es so ist, nehme ich Euch nichts übel.«
»Halt endlich die Klappe«, knurrte Losian. Ein wenig linkisch wegen der Last in seinen Armen verneigte er sich vor ihrem Gastgeber. »Ich bitte um Vergebung.«
»Legt den Jungen da vorn auf das Lager«, bekam er zur Antwort.
Losian sah in die gewiesene Richtung und entdeckte in einem Alkoven neben einem kleinen Herd ein Bett mit einer wollenen Decke darauf. Er legte Oswald darauf nieder und trat zurück, um dem Mann Platz zu machen. Dann fiel ihm etwas ein, das er offenbar irgendwann einmal über Juden gehört hatte – vermutlich im Heiligen Land. »Seid Ihr ein …« Wie hieß doch das Wort gleich wieder? »Arzt?«
»So ist es. Josua ben Isaac.«
Losian rätselte über diese letzten Worte und erkannte mit einiger Verspätung, dass der Mann sich ihm vorgestellt hatte. Er wusste überhaupt nicht, wie er diese seltsame Situation handhaben sollte, wie diesem unheimlichen Fremden begegnen, aber er erwies ihm zumindest die gleiche Höflichkeit. »Man nennt mich Losian.«
Josua ben Isaac ignorierte ihn vollkommen. Er hatte das Ohr wieder an Oswalds Brust gepresst und lauschte. »Das ist nicht gut«, murmelte er vor sich hin. Er beugte sich über Oswalds Gesicht und fächelte mit der Hand, als wolle er den Atem des Kranken schnuppern, horchte seinem rasselnden, mühsamen Keuchen, fühlte seine Hände und die Stirn.
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