Hiobs Brüder
hölzernen Löffel vom Gürtel, tauchte ihn in das Kohlfass und gab vor, die Blicke nicht zu bemerken, die die anderen tauschten. Schließlich folgten sie seinem Beispiel und begannen zu essen. Wie immer teilten die Zwillinge ihre Ration mit ihrem Hund, der ebenso hungerte wie die Menschen und sich darum dankbar auf den Sauerkohl stürzte.
»Es gibt nicht viel mehr zu erzählen«, sagte Simon. »Vor sechs Jahren gab es in Lincoln eine große Schlacht. König Stephen verlor und geriet in Gefangenschaft. Aber wenig später geriet Gloucester ebenfalls in Gefangenschaft, und sie wurden gegeneinander ausgetauscht. Alles ging wieder von vorn los. Bei ihrer Flucht aus Oxford vor ein paar Jahren wäre auch die Kaiserin beinah ihren Feinden in die Hände gefallen, und seither verschanzt sie sich in Devizes Castle und rührt sich nicht mehr.«
»Der Krieg schleppt sich lustlos dahin, und die Lords machen, was sie wollen«, fasste Regy zusammen. »Ich schätze, viele haben begriffen, dass sie ganz gut ohne einen König zurechtkommen – ohne eine Königin allemal –, und sonnen sich viel lieber in ihrer uneingeschränkten Macht, als einen der Kontrahenten zu unterstützen, dem sie sich dann irgendwann wieder unterwerfen müssten, wenn der Krieg aus wäre.«
»Aber wenn es keinen König gibt, wer soll dann das Recht verkörpern?«, wandte Simon ungeduldig ein.
Regy zwinkerte ihm zu. »Niemand. Das ist ja das Großartige.«
Simon machte eine ausholende Geste, die das ganze niedergebrannte Dorf umschloss. »Ich weiß wirklich nicht, was du so erheiternd daran findest, dass so etwas hier geschehen kann. Ungestraft und ungesühnt.«
»Wirklich nicht?«, fragte King Edmund. Er betrachtete Regy mit unverhohlenem Abscheu, was ihm nicht ähnlich sah. »Dann erkläre ich es dir, Simon de Clare: Dies ist die Anarchie. Die Rechtlosigkeit und das Chaos, auf denen der Satan sein Reich zu errichten gedenkt. Und das ist es, was Regy herbeisehnt.«
Die anderen bekreuzigten sich, und Regy lächelte verträumt vor sich hin.
Norwich, April 1147
»Schert euch weg«, befahl der Torwächter. »Bettler, Krüppel und hungrige Köter haben wir weiß Gott genug in der Stadt.«
King Edmund baute sich vor ihm auf. Seine Statur war nicht sonderlich beeindruckend, seine Missbilligung hingegen schon. »Du solltest dich besinnen, mein Sohn«, riet er streng. »Ich komme aus dem Kloster St. Pancras, das weit fort von hier in Northumbria liegt. Der ehrwürdige Abt schickt mich mit diesen bedauernswerten Kranken zum ehrwürdigen Prior des hiesigen Klosters, der ein berühmter Heiler sein soll, um seinen Rat einzuholen, was wir für sie tun können.«
Der Torwächter, ein alter Haudegen mit gefurchter Stirn und einer roten Knollennase, ließ den Blick abschätzig über das abgerissene Häuflein schweifen. »Wie wär’s mit Notschlachten?«, schlug er dann vor.
Sein Kamerad, ein junger Kerl in einem viel zu weiten Kettenhemd, prustete los, schlug sich aber schuldbewusst die Hand vor den Mund, als Edmunds Blick auf ihn fiel.
Losian trat einen Schritt vor. Er nahm die Kette kurz, sodass Regy neben ihm einherstolperte. Der stieß einen zischenden Fluch aus und bedachte Losian mit einem Blick blanker Mordgier.
»Ich bin zufällig mit dem guten Bruder zusammen gereist«, erklärte Losian dem alten Wachmann. »Mein Auftrag ist es, diesen Mann hier dem Sheriff zu übergeben, denn er ist ein Mörder und sehr gefährlich.«
Die Verächtlichkeit des Wächters wich einer beinah unterwürfigen Verbindlichkeit, die, so wusste Losian, allein seinen feinen Kleidern und Waffen geschuldet war.
»Ihr könnt selbstverständlich passieren, Mylord«, versicherte der Torhüter.
Losian schüttelte knapp de Kopf. »Wir werden alle passieren, Freundchen, oder ich bringe dieses Ungeheuer in Menschengestalt in eure Stadt und lass es dort los. Dann sind eure Straßen morgen früh ein See aus Blut, ich schwör’s bei Gott.«
Die Wächter tauschten einen Blick. Verstohlen begutachteten sie Regy aus dem Augenwinkel, der sich einen Spaß daraus machte, die Zähne zu fletschen und zu knurren wie ein Wolf. Es war eine alberne Posse, aber es reichte, um die Torwachen zu überzeugen.
»Also schön«, brummte der Alte und winkte sie angewidert durch. »Aber macht hier ja keinen Ärger.«
Erleichtert durchschritten die Wanderer das mächtige hölzerne Stadttor und schauten sich mit großen Augen um.
Losian hatte keinerlei Erinnerung daran, je in Norwich oder einer anderen Stadt
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