Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
Seevögel sind schon lange verstummt und verbergen ihre Schnäbel unter ihren angelegten Flügeln.
Taddeo läuft, er rennt. Barfüßig über schmerzhaftes Gestein, ein merkwürdiger Lauf wie über glühende Kohlen. Er erreicht den Hafen und fängt an, wild deutend und zappelnd auf die Leute dort einzureden, um sie zur Hilfe zu holen. Aber er vergisst die Konsonanten. Seine Worte sich langgezogenes Gelalle, wie das eines Babys, das noch keine Sprache kennt. Schließlich zerrt er die ersten Passanten mit. Hektik verbreitet sich wie Fleckfieber. Unheil spricht sich in verschiedenen Tonarten herum. Mehrere erreichen den Damm. Keiner traut sich in die trügerisch ruhigen Wasser, so richtig hat immer noch keiner verstanden, was Taddeo ihnen eigentlich sagen will. Man organisiert ein altes Seil, das nach Muscheln riecht. Einer wird zu Wasser gelassen, auch er von den unsichtbaren, unter der Oberfläche mahlenden Strudeln erfasst, kann sich festhalten, wird nur mit Mühe geborgen. Abergläubische Furcht entsteht, wächst, deformiert sich zu Gebeten. Dann findet man die drei Waisen. Unten, am schwarzen Strand, nahe dem verlassenen Auto. Sie spielen stumm mit hellbunten Plastikfiguren auf dem dunkel konturierten Untergrund, von ihrer Mutter verlassen, wie nur kurz, um eine wichtige Besorgung zu machen, aber doch für immer. Sie passen aufeinander auf, die einzigen Kinder in einer karstigen Welt. Man erkennt die drei Kleinen. Man begreift, dass andere hier fehlen, weggerissen worden sind vom Unfassbaren. Man beginnt mit der herzlichen Trauer Sardiniens.
Langsam findet sich eine Gemeinde ein. Taddeo Serrano hat begonnen zu zucken wie ein Epileptiker, einmal bäumt er sich sogar auf und will sich der Meeresoberfläche entgegenstürzen, er, der nie das Schwimmen lernte. Aber man hält ihn, man wiegt ihn. Ein Krankentransport bringt ihn in Sicherheit. Man kümmert sich auch um die Kinder. Zu Hause, von den Großeltern behütet, schläft ja sogar noch das siebte, allerjüngste Kind der Menaghis einen nach Apfelbrei duftenden Schlaf. Bittersalzige Tränen wecken es auf. Die Eltern von Curzio Salda sind verständigt worden, sind sich zuerst in einem Anfall wilder Hoffnung gar nicht sicher, ob ihr kleiner Junge wirklich zusammen mit den Menaghis zum Strand gefahren ist, aber so langsam schiebt sich unaufhaltsam der Schmerz in ihr Leben. Metallstangen, Leitern, Taue und Schläuche werden auf dem Damm zu grotesken Ausdrucksformen der Ratlosigkeit verbunden, um die Bergung von was auch immer zu unterstützen, doch alles ist vergeblich, läuft irgendwie immer ein paar Grade an der Machbarkeit vorbei. Zeit vergeht. Da sind jetzt die Eltern Salda und auch die drei noch lebenden Großeltern der Menaghi-Kinder und starren rotäugig hinab auf kleine, brechende Wellen. Irgendeiner kommt auf die großartige Idee, zur Fabrik zu gehen und die Ansauganlage auszustellen, bevor noch weitere Tauchversuche in Lebensgefahr geraten. Ein alter ölverschmierter Mann wird geweckt, er ist der Spezialist für diese Sachen. Oben, in der Fabrik, dreht er Stellräder herum, aber der alles entscheidende Hebel ist dermaßen durchgerostet, dass er splittrig bricht. Blut tropft auf den fleckigen Boden. Auch andere Versuche, irgendwelche Klappen und Ventile zu schließen, schlagen fehl, denn irgendwas hat sich dort unten in der Saugvorrichtung verklemmt, und jeder ahnt schaudernd, was. So vergehen dann fast vierundzwanzig Stunden, und nichts kann geborgen werden, nichts identifiziert, nichts abgedeckt, beweint und dann beerdigt. Der Himmel oben ist ein Spiegelbild des Meeres geworden und spuckt allen Menschen ins Gesicht. Heute schon, nur einen Tag später, wäre bei diesem Wetter niemand hierher zum Baden rausgefahren, und niemand hätte sterben müssen. Aber zu spät. Einer nach dem anderen von den Helfern und Bergern gibt auf und bringt sich vor dem Gewitter in Sicherheit. Jemand hat laut geäußert, dass mal bloß kein Blitz hier in die Metallstreben der Rettungsgerüste einschlagen soll. Das hat ein Übriges bewirkt. Für die Portovesmer ist die Sache hier so wenig erledigt, als hätte sie noch nicht einmal begonnen, aber dem Zürnen der Elemente zu trotzen, würde noch mehr Unglück über das Städtchen bringen. Da niemand hier vermag, sich noch mehr Unglück auch nur auszumalen, wagt es niemand, sich dem weiter auszusetzen.
Die betrachtende Menge begann langsam, sich zu verlaufen. Verwaschene, vom Grauen gebeutelte Gestalten, die farblos ineinander schritten
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