Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
vorne auf dem Damm und sieht der Sonne beim Tanzen auf den Wellen zu. So auch heute. Er sitzt sicher auf dem Damm, die Füße noch einen guten Schritt hoch über der Wasseroberfläche baumelnd. Rätselhaft zieht das Meer ihn immer wieder an, an diesen am weitesten vorragenden Punkt von ganz Portovesme, aber Taddeo will es immer nur ansehen, es riechen, möglichst niemals es berühren. Taddeo Serrano kann nämlich nicht schwimmen. Seine Mutter hat ihm verboten, auf den Damm zu gehen, aber so ist das halt mit tausendfach wiederholten Ermahnungen. Er liebt diese Stelle hier so sehr, sicher oberhalb des Wassers, das dumpfe Brummen und ab und zu das Zischen der Fabrik ist hier gut zu hören, das rhythmische Schlagen der Wellen gegen den Damm, das Schreien von Seevögeln.
Das Schreien von Seevögeln.
Das Schreien von Seevögeln.
Aber das da – das da jetzt – das ist doch kein Seevogel?! Jemand schreit doch da, ein Kind, ein Mädchen!
Taddeo Serrano springt auf und läuft auf dem Damm nach hinten, dem Land entgegen, bis er Stefania sehen kann. Sie stirbt, sie hat schon Wasser in den Lungenflügeln und oben in der Stirnhöhle, aber sie kämpft noch. Der Sog des Kühlwasserrohres spielt mit ihren Fesseln, wie eine Katze mit einer Maus spielt. Ein Patschen, ein leichter trügerischer Stoß, dann wieder ein Ziehen. Ein Einschlagen der Krallen, ein Reißen. Stefania gurgelt und blubbert und schlägt um sich und schreit mit der ganz hohen, verwundbaren Stimme eines Seevogels. Und Taddeo Serrano kann nicht schwimmen. Er steht über ihr und sieht ihr beim Sterben zu, und sein Schatten fällt auf sie, doch sie kann ihn nicht greifen. Taddeo weint und fängt nun selbst an zu schreien. Er ruft um Hilfe, führt einen verzweifelten Veitstanz auf, den nur die eine, die Sterbende, sehen kann. Stefania und Taddeo. Sie sind sich vorher noch niemals begegnet, aber in diesen kostbaren Momenten sind sie so sehr eins wie die innigst Liebenden auf Erden. Sie zappelt, und er winkt.
Hilfe kommt. Man erhört ihrer beider panisches Schreien. Doch was für Hilfe ist das? Was – bei der Heiligen Jungfrau – was für Hilfe soll das sein?
Kinder kommen angerannt! Stefanias kleine Schwester Cinzia (8), ihr kleiner Bruder Aldo (6) und der elfjährige Spielkamerad der Kinder, Curzio Salda – der mit den Menaghis zum Schwimmen mitfahren durfte, weil seine Eltern froh waren, für ein paar wertvolle Stunden mit sich alleine sein zu können – kommen gelaufen und springen ins Wasser. Dann kommen endlich auch die Eltern an, die Eltern Menaghi, Luciano und Spinella, sie winken und rufen, sie geben Anweisungen, auch Taddeo Serrano geben sie Anweisungen, aber der kann da nur stehen und taumeln, denn er kann ja nicht schwimmen. Die Eltern sehen, dass alles nichts nützt, und hechten sich in die Fluten. Ihre eigenen Kinder und der Spielkamerad Curzio sind eine wirre Ansammlung zuckender Ärmchen und Beinchen und von Kinderstimmen, die zu erschrocken sind zum Weinen. Stefania wird jetzt endgültig in die Tiefe gerissen. Ihr schönes langes Haar umweht sie wie sehr filigrane Algen. Aus dem Mund entlässt sie eine lange Kette verschieden großer Silberperlen, letzter Seufzer, letzter Gruß. Ihr Vater taucht ihr brüllend nach und beginnt zu kämpfen. Die anderen Kinder hängen sich an der Hals der röchelnden Mutter und ziehen sie mit sich hinab in ihrer aller Grab. Taddeo Serrano starrt aus wie wahnsinnig schmerzenden Augen hinab auf die Wasseroberfläche, die sich über den Haarschöpfen schließt. Sein eigenes Haar wird von seinen mahlenden Fingern durchzerrt. Dort unten, unter Schichten aus flüssigem Glas, kann er das sinnlose Wüten des Vaters erkennen, der ohne jede Chance versucht, seine geliebte Tochter dem maschinellen Sog zu entreißen, und der dabei gar nicht merkt, wie hinter ihm seine Frau in die Tiefe schwebt, behängt wie ein Christbaum mit toten Kindern, gravitätisch und langsam, eine bleiche, erkaltende Ballerina. Schließlich gibt auch der Vater nach. Ruhe kehrt ein dort drunten. Körper drehen sich langsam, in schattiger Schwerelosigkeit, in die Öffnung des Rohres hinein und machen es sich bequem in ihrem neuen Heim. Niemand taucht niemals mehr auf. Taddeo Serrano schreit jetzt, ein lang hingezogenes Heulen, fast wie eine Sirene, das man in der Fabrik hören kann und auch unten am Hafen. Selbst in der Stadt, auf dem Markt, kann man den schrecklichen Laut vernehmen, denn Taddeo überschreit selbst das Meer, selbst den Wind. Die
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