Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer

des Bogens hervor. Vor dem Umdrehen zögerte er. Was, wenn es ›Der Tod‹ war oder eine der hässlicheren Karten des Kleinen Arkanums? In jedem sauber konstruierten Film würde es jetzt auf so etwas hinauslaufen. Aber er winkte innerlich ab. Das Leben war kein sauber konstruierter Film. Das Leben war ein C-Picture mit Darstellern, die keine Ahnung hatten, und einem Regisseur, der wollte, dass es so blieb.
    Keine Macht der Welt hätte ihn auf die Überraschung vorbereiten können, die die neunte Karte barg.
    Sie war leer, weiß, völlig blank.
    »Was soll das sein?«, lachte Hiob verwirrt. »Eine Wildcard?«
    »Es tut mir leid«, erklärte Mme Oradour ruhig. »Das ist eine der Deckkarten, die in der Ablage dem Schutz der anderen dienen. Ich musste sie dazumischen, damit wir mit 78 Karten spielen konnten. Natürlich habe ich gehofft, dass sie nicht gezogen wird.«
    »Was soll das heißen: Sie mussten sie dazumischen? Dann haben wir ja mit 79 Karten gespielt, und das ganze Spiel ist hinfällig!«
    »Nein. Ich sagte es doch schon, wir haben mit 78 Karten gespielt, weil ich die leere Karte dazugenommen habe. Ich musste ganz zu Anfang eine Karte aus dem Spiel nehmen, weil ihre Anziehungskraft mir das ganze Deck für alle Zeiten durcheinandergebracht hätte.«
    »Welche Karte war das?«
    »Ihre.«
    »Meine?«
    »Ja. Die Karte, die Sie zeigt. Eine des Großen Arkanums. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich Sie zu mir an den Tisch bat, glauben Sie mir. Manchmal liebe ich es, gefährlich zu leben, genauso wie Sie es lieben. Aber tun Sie mir bitte den Gefallen« – mit behänder Geste schob sie die noch unaufgedeckt ausgebreiteten Karten auf dem Tisch zusammen und nahm sie an sich – »und fragen Sie mich nicht, welche Karte die Ihre ist. Dass ich die Gefahr liebe, bedeutet noch nicht, dass ich Gefallen daran finde, tot zu sein.«
    Hiob grinste. »Ich weiß ohnehin, welches meine Karte ist. Die Eins. ›Der Magier‹. Das ist doch sonnenklar.«
    »Oh, es ist mitnichten die Eins, so viel kann ich Ihnen verraten. Und es ist auch nicht die Null – ›Der Narr‹ – und auch nicht die Neunzehn – ›Die Sonne‹ – , wenn wir schon beim Thema sind. Aber weiter dürfen Sie nun wirklich nicht in mich dringen. Wir werden uns sicherlich eines Tages wiedersehen, dann kann ich Ihnen Ihre Karte zeigen und auch die des Salamanders. Aber die Zeit ist dafür noch nicht reif.«
    »Sie wissen, wer der Salamander ist? Ich meine, welche Karte?«
    »Ich habe eine begründete Vermutung, ja. Aber jetzt bitte ich Sie zu gehen. Wie versprochen werde ich Ihnen nichts für meine Dienste berechnen, und mehr noch: Ich möchte mich bei Ihnen aufrichtig für Ihr Kommen bedanken, denn ich habe viel gelernt während dieser Sitzung. Ich wünsche Ihnen alles verfügbar Gute.«
    Hiob erhob sich, die Brust noch immer schmerzend, im Schädel ein Gefühl, als hätte man ihm einen Weinkrug drübergehauen, den ex auszutrinken man ihn vorher gezwungen hatte.
    »Ich habe noch zwei unverfängliche Fragen an Sie, Madame. Ich verspreche Ihnen, dass ich danach gehen werde.«
    Sie seufzte und wich seinem Blick aus, als würde sie sich fürchten. »Zwei Fragen«, gestand sie leise zu.
    »Erstens: Was bedeutet es nun für meine Zukunft, dass die Karte meines neunten Punktes leer war?«
    »So weit kann ich Sie beruhigen: Es bedeutet nicht, dass Sie keinen neunten Punkt erringen können. Es bedeutet lediglich, dass es eine Veränderung geben wird, einen Bruch im bisher geradlinigen System. Welcher Art dieser Bruch ist, vermag ich nicht zu sagen. Die Farbe Weiß bedeutet außerdem, dass die Zukunft eines Spielers – im Gegensatz zur Zukunft der meisten anderen Menschen – noch nicht festgeschrieben ist, weil sie in der Hand des Spielers selbst liegt. Ich könnte Ihnen aber wahrscheinlich auch aus Ihrer Hand nicht die Zukunft vorhersagen. Sie sind kein gewöhnlicher Mensch.«
    »Was nahtlos an meine zweite Frage anknüpft, da mir solche Sprüche doch sehr bekannt vorkommen: Sind Sie eine Agentin des Wiedenfließes?«
    »Sind wir das nicht alle, die wir Magie praktizieren?«
    Shiiiit.
    Fünf aufeinanderfolgende Fahrten auf einer Doppellooping-Achterbahn reichten nicht annähernd aus, um diese Antwort aus Hiobs Stoffwechsel zu kriegen.



Prognosticon 6: Aussetzer
    Was wieder beweist,
    dass die Menschen vor allem Angst haben,
    man könnte sie zwingen,
    irgend etwas zu fühlen.
    [ ... ] Was ist der Mühe wert?
    Nur das, was man selber fühlt.
    (Virginia Woolf)

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