Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer

Möglichkeiten. Und er half mir damit sehr, denn er gab mir die Möglichkeit, meine dauernden Krankheiten und medizinisch rätselhaften Breakdowns in ein sinnstiftendes System zu integrieren. Ich begann, mir erklären zu können, was eigentlich mit mir los war. Das war keine gottverdammte Pubertät, wenn einem beim Wichsen grünliche Soße aus dem Schwanz spritzte, die nach Kochzwiebeln roch. Das war Magie. Ich war ein Empath, deshalb litt ich so. Und ich hatte die theoretischen Fähigkeiten, mich in die Wiedenebene einzuklinken und von dort aus Energie abzuzapfen und diese dann auf wunderbare Weisen zu nutzen. Wohlgemerkt: die theoretische Fähigkeit. Zumindest zuerst.
    Ein kleiner Exkurs = wieder eine schiefe Bahn: Ich habe nie eine befriedigende Erklärung dafür erhalten, warum meine Empathie eigentlich rein negativ ist, das heißt, warum ich nur Schwingungen von Katastrophen, Todesfällen, Schrecknissen und Zerstörungen empfangen kann. Ich stelle mir das ziemlich genial vor, ein Empath zu sein, der good vibrations aufnimmt. Die Gefühle jedes Liebespaares, das vorübergeht, jeder Mutter zu ihrem im Kinderwagen nuckelnden Säugling, das Kommen des Frühlings, die sporadisch auftretenden kleinen Akte spontaner Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft, die in ihrer Gesamtzahl vielleicht doch ein kleines konstantes rosa Rauschen bilden. Man würde wohl wie ein lächelnder Idiot durch die Welt gehen. Oder zu dauerejakulierender Gelatine reduziert werden. Wahrscheinlich ist das der Grund. Aktionismus ist aus fortwährendem Wohlbefinden heraus nicht zu erwarten. Wahrscheinlich musste ich deshalb ein »Negativer« werden. Weil ich eben fürs Spiel bestimmt war. Und als Spieler muss man den Wahnsinn und die Destruktionen empfinden können, gegen die man vorgeht und für die man auch – zwangsläufig – verantwortlich zeichnet.
    Wie gesagt – Exkurs Ende –, mein Großvater triggerte meine arkanische Vertiefung. Er wollte wohl auch meinem eingeschlagenen Grundkurs entgegensteuern, fleißiger Stecher einer Schickse zu werden und sonst weiter nichts.
    Nun, man kann wohl sagen, er hatte Erfolg. Und das so radikal, dass es ihn selbst am meisten erschreckte. Denn ich beschloss, kaum dass ich meinen wertlosen Abiturfetzen in der Tasche hatte, mich auf eine zweijährige Klausur in der Montagschen Familiengruft einzulassen, um zu lernen, zu fasten und mich selbst zu initiieren. Per Aspera ad Astra. Also steht es dort geschrieben.
    »Zu früh, zu früh«, jammerte mein ehrwürdiger Magus-Großvater. »WAS willst du? Geh nicht! Und wenn du doch gehst: Erwarte nicht von mir, auf dich zu warten!«, gab mein Girlfriend wohlfeile Klischees von sich, die mich, genau wie die Mahnungen Terachs, nur in meinem Vorsatz bestärkten. Der Druide Byhn zeigte sich erfreut vom mönchisch-asketischen Potenzial eines so rotzigen Slackers. Und meine Mutter sagte: »Geh nur«, und nutzte die Gelegenheit meines Hinabsteigens, um sich ein für alle Mal aus meinem Leben davonzumachen, zurück Richtung Heimat, den unmöglichen Sohn bis in die Volljährigkeit gebracht habend und damit jegliche Schuldigkeit getan.
    Ich plante meine zwei Jahre in der Gruft so sorgfältig, wie andere frischgebackene Abiturienten ihre Belohnungs-Rucksack-Weltreise planen.
    Dann ging ich in die Tiefe und lernte und fastete und initiierte mich selbst.
    Die zwei Jahre in der Iso-Haft machten mir verblüffend wenig aus, denn ich hatte Hunderte von wertvollen Büchern und einen Radio-Walkman als Spielkameraden und begann dort unten auch mit ersten magischen Experimentchen, und ich kann dazu nur sagen: Es gibt wohl nichts Spannenderes auf der ganzen Welt, als wenn man herausfindet, dass die Gesetze von Physik, Chemie und Biologie sich genauso leicht brechen lassen wie die Gesetze der Justiz. Ich war ein Forscher dort unten, betrat an jedem der 730 Tage Neuland, konnte mich manchmal nur mit Mühe zum Schlafen zwingen. Das waren alles Kinkerlitzchen, was ich dort unten veranstaltete, aber – bei allen jemals geträumten Göttern: Ich machte Licht in meiner Hand! Rötliches, diesiges und flackerndes Licht zwar, das übel roch und nach einer Weile mächtig wehtat zwischen den Fingern, aber es war ein Leuchten. Und ich brachte es hervor! Lauter solche Sachen halt. Kinderkram. Eben das, was man zu leisten imstande ist, wenn man jung ist und unerfahren und seine Seele noch nicht dem Wiedenfließ verkauft hat.
    Ja, das Fließ. Ich erhielt erste Einblicke in dieses Höllenparadies.