Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
doch nicht einfach durch die Maschen rutschen, wo wäre man denn da hingekommen? Und da waren diese Frauen, in dem dreistöckigen Haus hinter der Ostfront, die hat der Mann mit dem Lauf seiner Maschinenpistole gevögelt und dann dabei abgedrückt, das war für den Führer, das war heißes Bolschewikenblut. Das ist alles so lang her, ach ja, als wär’s gestern gewesen.«
Die Schilderungen waren zu plastisch für Hiob, sein genetischer Empathiedefekt machte sich wieder bemerkbar, und sein Magen begann zu rebellieren. In diesem Augenblick ärgerte er sich übrigens zum ersten Mal in seinem Leben darüber, dass ihm immer nur schlecht wurde, wenn andere Böses taten, nicht aber, wenn er selbst jemanden umbrachte. Da Ersteres nachweislich viel öfter vorkam als Letzteres, war das einfach nicht fair. Remmert hakte ihn kumpelhaft unter und nahm ihn mit zur nächsten Station.
»Die nächste Attraktion in unserer Freakshow des Alltäglichen: eine junge Frau in der Blüte ihrer Jahre, höchstens dreiundzwanzig Lenze alt. Natürlich nur auf dem Geburtsschein, denn in Wirklichkeit hat das ganze Gift, das sie andauernd zu sich nimmt, ihre inneren Organe und ihr gesamtes zelluläres System schon dermaßen verkorkst, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sie anfängt, zu einer lebenden Biomülltonne zu mutieren.« Remmert lachte über diesen anschaulichen Vergleich. »Im Sprachgebrauch unseres geschätzten Rentnerpärchens von eben würde man dieses Weibchen hier als ›unwertes Leben‹ bezeichnen. Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Rauchen auf dem Schulhof, Saufen auf der Party, Klebstoffschnüffeln unter der Bettdecke, Koksen vor dem Bumsen, ein phatter Joint mal hier und da, ein bisschen »H« für’s bisschen mehr, dann die Designerspäße. Witzigkeiten wie Ecstasy kicken schon gar nicht mehr ein, Crack, obwohl noch schwer zu beschaffen, bringt ersehnte Erleichterung, am besten zusammen mit Tabletten. Diese Frau schluckt einfach alles. Drück ihr ein paar Fieberzäpfchen in die Hand, und sie wird sie verschlingen, denn irgendwas Chemisches muss da ja auch drin sein. Zuletzt hat sie sich Kombi unter die Zunge gespritzt. Du weißt, was Kombi ist? Eine Art Speedball aus Kokain und Heroin, in der Berliner Szene ziemlich verbreitet. Unter der Zunge, ins Bauchfell oder direkt in die gut durchblutete Klitoris injiziert bringt das Zeug selbst Tote zum Brüllen. Die Pointe bei dem gaga-ganzen ist natürlich, dass das so weiterläuft. Es gibt überhaupt keine Perspektive mehr. Sie kommt da nie mehr raus. Es ist mittlerweile zwar schon ziemlich schwer geworden, ihren Hartes gewöhnten Körper mal so richtig totzukriegen, aber irgendwann wird sie durch besinnungslose Snuff-Hurerei genügend Geld zusammengebracht haben, um sich statt der andauernden Katzengoldschüsse mal einen aus richtigem Gold zu setzen, und das war’s dann, Vorhang, Klappe. Wirklich nicht weiter bedauerlich, oder findest du doch? Unser nächster Kandidat hier« – jungdynamisch wirkend, gut gekleidet, wohlfrisiert – »passt insofern gleich ins Bild, als dass es für ihn auch keine Möglichkeit mehr gibt, aus seinem selbst gewählten System zu entkommen. Dabei ist genau das sein großer Traum. Dieser Bursche hier schuftet sich tot, rackert sich ab, achtzehn bis neunzehn Stunden am Tag, und das noch dazu in einer so belanglosen und vergänglichen Branche wie einer kleinen Werbeagentur, die er noch nicht mal selbst gegründet hat. Er ist noch keine fünfunddreißig, er hat schon seit vier Jahren keinen Urlaub und kein echtes Wochenende mehr gehabt, seine Frau ist ihm mit seiner kleinen Tochter abgehauen, und er hat nicht mal richtig Zeit gefunden, gerichtlich dagegen Einspruch einzulegen, stattdessen macht sein Herz schon nicht mehr richtig mit, satte Tachykardien machen ihm zu schaffen, sein Magen fabriziert Geschwüre wie seine Ideen Mehrwert, der ganze nitrat- und kohlehydrathaltige Einwegfraß bringt seine Innereien zum Glühen, fehlt eigentlich nur noch, dass er anfängt, inkontinent Blut zu pissen, aber auch das würde ihn wohl nicht aufhalten können. Dieser Mann hat nämlich einen Traum, o ja, da ist er genau wie Martin Luther King. Ist zwar nicht ganz derselbe Traum, ist aber doch jedenfalls erst mal richtig und wichtig, überhaupt zu träumen, oder? Macht ihn doch grundsympathisch, unseren kleinen Geldscheffler hier. Und was ist nun der Traum, fragst du mich, Spieler Montag? Was lässt diesen Kerl hier ticken? Jetzt kommt’s, halt dich
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