Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
man es, Jüngere leiden zu sehen. Unser junger Freund hier kann sich nicht abfinden; er wird nicht zum Bund gehen, definitiv nicht. Wird sich nicht von brüllenden Schwachköpfen um fünf Uhr morgens aus dem Bett reißen lassen, wird sich keine Strafdienste aufbrummen lassen, wenn sein auf DIN-A 4-Format zusammengefaltetes Hemd eine Falte zeigt, und er wird sich auch keinen politisch indoktrinierten Unterrichtsunfug über die Unverzichtbarkeit der Armee anhören. Vieles kommt hier zusammen, die Träume von einem blumigen Utopia und die vergiftete Unmöglichkeit der konservativ regierten Realität. Das ist Amokläufer-Material, was wir hier vor uns sitzen haben, Spieler Montag. Jung und kräftig, voller Energie, voller Visionen, enttäuscht und verwundet von den Wahrheiten und Ungerechtigkeiten des Daseins. Er hat den Entschluss gefasst, der Welt einen Gefallen zu tun und so viele wie möglich mitzunehmen in den Tod. Ein Zeichen setzen, ein Fanal, wie Selbstverbrenner immer so schön sagen. Aufrütteln. Flagge zeigen. Etwas bewegen. Erst noch mit einem Messer in der Hand ein paar Leute umlegen, die ihn schon immer schikaniert haben, den Vater zum Beispiel, und ein paar Lehrer. Der Welt somit einen echten Gefallen erweisen. Dann aber mit Sprengstoff – an den zu kommen für einen alerten jungen Mann in einer Stadt wie dieser wirklich kein Problem mehr ist – eine Autobahnbrücke sprengen, mitten in der Rush-Hour. Stoppt den schadstofferzeugenden Massenverkehr! Buuummmm! Fleisch und Metall ineinanderdetoniert, moderne Kunst, eine einmalige Performance. Und wenn man ihn dann immer noch nicht geschnappt hat, was durchaus möglich ist, was kommt dann? Giftgas vielleicht? Kein Problem für ein cleveres, entschlossenes Kerlchen, ein paar Fluoride miteinander zu kombinieren. Das Trinkwasser? Viren? Ein explodierendes Flugzeug mitten über der City? Unbegrenzte Möglichkeiten! Und all das völlig ohne politisches Manifest oder zellengenössisches Backing. Es stimmt beinahe, was man sagt: Das gefährlichste Wesen auf diesem Planeten ist ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat. Es stimmt deshalb nur beinahe, weil du und ich natürlich wissen, dass du und ich noch viel gefährlicher sind als so einer. Aber unter uns: Wir müssen doch zugeben, dass so einer schon ganz schön nahe rankommt an uns, oder etwa nicht?«
Remmert lächelte gemein, wartete aber nicht auf irgendeine Reaktion Hiobs, sondern ging weiter zur nächsten Sitzbank. Das Rentnerpärchen.
»Schau hier. Die typischen Opfer des Giftgasanschlags unseres Kumpels von eben. So meint man. Aber die beiden hier haben natürlich auch was auf dem Kasten. Ja, du vermutest richtig: Da haben wir es, dieses typisch deutsche Problem. Vor fünfzig Jahren haben sie beide »Heil Hitler!« gebrüllt, er hatte dabei nicht nur einen erigierten rechten Arm, und sie war feucht wie ein Granatentrichter nach einem Platzregen. Besonders die marschierenden, hohen Lederstiefel der dickhalsigen Soldaten haben ihr gefallen. Hinterher haben sie natürlich von nichts gewusst, haben sich mit Adenauer abgefunden, denn so schlecht war das ja nun auch nicht, und ein bisschen Opportunismus kann ja nicht schaden. Das Wirtschaftswunder kam und verging, wie der Sommer das tut. Jetzt sind sie alt und hässlich, haben keine Angehörigen mehr, jede ihre Bewegungen stinkt zum Himmel, und nichts ist ihnen mehr geblieben als der Hass auf alles, was nicht so weit heruntergekommen ist wie sie. Wenn man den Hass dieser beiden körperlichen Schrumpfzwerge hier wie einen Bodenschatz gewinnen könnte, würde man ein ganzes Talsperrenreservoir mit der galligen Brühe füllen können. Alles ist in ihren Augen schiefgelaufen: Kanaken haben jetzt in ihrer Wohngegend das Sagen, dass man sich im eigenen Land nicht mehr heimisch fühlen kann und sich für die eigene Sprache schier entschuldigen muss, die Rente ist so knapp bemessen, dass die Kartoffelschalen wieder ausgekocht werden müssen, genauso wie im Krieg, und überall, auch in den Fernsehserien, hört man als Untermalung nur noch diese fiese Popmusik im englischen Kauderwelsch. So hadern und schimpfen und ächzen sie sich durch Tag auf Tag, sie wählen – natürlich – die Republikaner, denn die sprechen wenigstens offen aus, was schiefläuft und was nottut. Die beiden hier werden zwar niemanden mehr töten, aber ihren Teil haben sie schon geleistet. Ein paar Juden haben sie denunziert, damals, die die SS sonst vielleicht nicht erfasst hätte. Die konnten
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