Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
fest: Aussteigen will er! Er macht das alles, um da rauszukommen! Das ist doch wirklich göttlich, das musst du zugeben, das hätte sich Molière nicht besser ausdenken können. Dieser Junge hier ist der Spaßvogel unter unseren Gästen. Er hat eine ganz klare, deutliche, lineare Vision vor seinem geistigen Auge, wie viele Jahre er noch in dieser Tretmühle sich abrackern muss, bis er endlich genügend Knete auf seinen diversen Konten zusammenhat, um aus dem Laden rauszuspazieren, niemals wiederzukehren und einzutauchen in die wunderschöne Dschungellandschaft der Werbespots von Sumatra Rain. Das Aussteigerdasein darf natürlich nicht mit zu viel Anstrengungen verbunden sein, für so etwas wie elementaren Komfort muss schon gesorgt werden, aber andererseits muss es auch nach Männlichkeit und Abenteuer duften und schon ein paar solide bewältigbare Strapazen bereithalten. Mit einem Wort: Eine endlose Marlboro Adventure Tour oder Camel Trophy wäre genau das! Sauber durchorganisierte Freiheitlichkeit. Die Annehmlichkeiten der Wildnis, kunstvoll kombiniert mit den Vorzügen der Neuzeit. Herrlich. So ein richtiger Aussteiger ist er also wohl doch nicht. Wahrscheinlich nur der bescheuertste Idiot unter der Sonne. Aber da tu ich ihm natürlich unrecht. Er ist ja nicht der Einzige, der so ist. Allein in Deutschland denken wahrscheinlich mittlerweile schon über eine Million Männer so. Wie heißt es so schön: Leistung, die sich lohnt? Für wen eigentlich? Für was?«
Der Conferencier, der mittlerweile so in seine Performance hineingewachsen war, dass er zwischen den vorzuführenden Personen schon zu schlendern begann wie Joel Grey, ließ die womöglich philosophisch gemeinten Fragen unbeantwortet verhallen und führte den benommenen Hiob zwei Sitzbänke weiter nach vorne zu einem Mann um die vierzig, dessen große Nase und alkoholikerischen Tränensäcke ihn ziemlich melancholisch aussehen ließen. »Der hier ist jetzt weniger lustig, der hier ist eher traurig zu nennen. Eigentlich ein guter Mensch, sogar nach deinen verquasten Maßstäben, Spieler Montag. Er hat gewisse intellektuelle Fähigkeiten, die ihn durchaus für eine gesellschaftliche Vorbildfunktion prädestinieren, er hat die praktikableren Ideale des antiautoritären Zeitalters in die rüden Neunziger hinübergerettet, er könnte sogar eines Tages – von seiner genetischen Disposition her betrachtet – ein guter und liebender Vater werden. Nur praktisch ist das leider völlig unmöglich. Nicht etwa, weil er impotent ist, nein, nein, das Problem liegt nicht so offen. Es geht viel tiefer. Dieser Mann hasst Kinder. Nicht wie die beiden Alten vorhin, weil er sie um ihre Jugend beneidet. Auch nicht wie unser erster Kandidat, weil er sie irgendwie begehrt und doch nicht haben darf, nein, nein. Er hasst sie, weil er in ihnen die Zukunft sieht und diese Zukunft die Hölle ist. Er hat täglich mit ihnen zu tun. Er ist Hauptschullehrer. Seine Aufgabe ist es zu versuchen, einen chaotischen Haufen aus destruktiven Selbstzündern noch irgendwie gesellschaftlich zu formen, bevor er sie in das realisierte Albtraumszenario des sogenannten Sozialstaatsgefüges entlässt. Er soll ihnen so etwas wie Kultur und Historizität vermitteln, bevor sie in einer matschigen Soße aus Benachteiligung und Demütigungen, Geschlechtskrankheiten, Suff und Sadismus ausgleiten, darin festkleben und selbst zu schreienden Strudeln ihres persönlichen Leidensweg-Terrors werden. Dieser Mann hat tagtäglich die Zukunft des Landes gesehen. Sie ist rot wie Blut, zäh wie Kotze und riecht nach abgestandener Scheiße. Natürlich kann er nirgendwo am Horizont eine Errettung durch einen Meisterspieler namens Hiob Montag erahnen, aber ich will jetzt nicht abschweifen, nicht polemisch werden. Ich bin und bleibe völlig sachlich. Dieser Mann hier könnte – rein theoretisch, wohlgemerkt – jedem einzelnen seiner Schutzbefohlenen die Augäpfel ins Hirn zurückdrücken und würde dabei noch das Gefühl haben, ein Gnadenbringer zu sein. Er könnte sich selbst mit Benzin übergießen und verbrennen, und wüsste, dass auch dies keinen Unterschied mehr machen würde. Für die Welt nicht und auch nicht für ihn. Er wird bereits von Flammen verzehrt, innerlich. Und davor gibt es kein Entrinnen. Die Hölle kommt. Er weiß es, du weißt es, wir vom Fließ wissen es. Tja, wer hat’s denn eigentlich noch nicht kapiert?« Remmert ließ spielerisch die Schultern rollen wie ein Boxer vor dem Kampf. Er sah Hiob an,
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