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Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer

Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer

Titel: Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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als erwarte er eine Antwort auf eine diesmal definitiv rhetorische Frage, aber der schwieg nur düster.
    »Na gut, gehen wir eine Bank weiter, schauen wir uns mal einen von den Millionen an, die so relativ zufrieden sind mit der Welt, in der sie leben, dass diese Welt einen Stellvertreterkämpfer wie dich überhaupt nötig hat. Da sitzt er, klein, gebeugt, schütteres Haar, ein fast karikaturhaft großer Kopf mit großen Augen. Ein Arbeitnehmer, langweilig wie nur sonst was. Dieser Mann enttäuscht uns, sonst aber niemanden. Seit fünfunddreißig Jahren arbeitet er Tag für Tag in ein und demselben belanglosen Betrieb, war niemals krank, war niemals Grund zur Klage. Nein, nein, er ist kein besessener Workaholic wie unser Aussteiger-Freund von der Werbeagentur. Das hier ist einer, der sich morgens einstempelt, und auf die Minute genau, wenn die acht Stunden um sind, stempelt er sich wieder aus und geht nach Hause. Und tagsüber in seinem Büro in seinem schwer einsehbaren Eck hinter den ganzen hohen Topfpflanzen geht er schweigsam und duldsam seiner Arbeit nach, im der Drögheit der Arbeit angemessenem gemächlichen Tempo, fehlerfrei, sorgsam und korrekt, er trinkt ein paar Tassen Kaffee, packt sich zwei belegte Brote aus, isst mittags das wasserbaderhitzte Catering-Frikassee aus der Plastikschüssel mit traditionell schwer abziehbarem Aluminiumdeckel und telefoniert zweimal am Tag mit seiner über neunzigjährigen Mutter, mit der er zusammenlebt und die er lieb hat, obwohl sie dauernd an ihm rumnörgelt, wenn er sie mal ein paar Minuten länger alleine lässt, weil eine U-Bahn ausgefallen ist oder ähnliche höhere Gewalt ihn zur Verspätung zwingt. Was erwartest du zu hören? Dass dieser Mann eine kriminelle Energie in sich nährt, die ihn eines Tages zum exzessiven Mord an seiner Mutter zwingt? Ach wo. Nichts dergleichen. Da ist nichts. Ein Steckenpferd hat er in seiner Freizeit: Er liest klassische deutsche Literatur, deutsch muss sie sein, und klassisch, das heißt: bewährt und anerkannt. Keine Experimente. Kein Gottfried Keller, denn der war Schweizer. Das ist alles, mehr ist da nicht. Für niemanden eine Enttäuschung, am wenigsten für sich selbst. Ja, er gönnt sich sogar ein klein wenig Stolz auf die Verlässlichkeit seines Lebens. Was sein Problem ist? Sag’s du mir.«
    »Er lebt nicht.«
    »Er lebt gar nicht, genau richtig. Er ist ein Zombie im klassischen Sinne des Wortes: ein wandelnder Toter, zur billigen Arbeitskraft in einem Idiotenjob missbraucht. Und er ist auch noch stolz darauf, ein Zombie zu sein, kann man’s fassen? Rüttel ihn und schüttel ihn und schrei ihn an: ›Wach auf, Mann, du farbloses Arschloch, tu einmal in deinem Leben etwas außerhalb des Trotts!‹, und er wird blinzeln und sich ducken und winseln: ›Warum? Warum sollte ich? Lassen Sie mich doch in Ruhe, bitte, ich habe doch nie jemandem was zuleide getan, lassen Sie mich doch bitte einfach weiterleben, das hab ich mir doch verdient.‹ Und so ist es auch. Genau das hat er sich verdient. In Ewigkeit so weiter. Bin gespannt, wie lange NuNdUuN ihn erträgt. Ich hörte, auch des Grenzenlosen Geduld ist nicht unendlich.«
    »Ja, vielleicht wird dieser kleine Kerl hier NuNdUuN fertigmachen.«
    »Hey«, lachte Remmert, »das wirst du ja zu verhindern wissen, oder? Erinnere dich: Deine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass Mister Fantastic hier nicht ins Fließ kommt.«
    »Ich hab’s nicht vergessen. Ich hab’s nicht vergessen.«
    »Gut. Gut.«
    Weiter ging’s. Ein zwölfjähriges Mädchen mit wulstigem, verschlossenen Gesicht und blondgefärbten kurzen Haaren. Hässliches, zu kurz gekommenes Ding mit dem Charisma einer Kartoffel.
    »Eigentlich ist sie brünett, aber braune Haare sind undeutsch, sind jüdisch, obwohl ›braun‹ eigentlich die Farbe der Nazis und Eva Braun der Name der teutonischen Urmöse war. Aber was soll man machen, es geht nicht immer logisch zu im Leben. Aufgewachsen ist das gute Kind im real existierenden Sozialismus, der nichts anderes war als eine Diktatur alter Männer. Unzufriedenheit machte sich breit, weil man nicht dahin gehen konnte, wohin man gehen wollte. Selbst ins Wiedenfließ gab es ein Ausreiseverbot, aber das kann auch nur ein Gerücht sein. Jedenfalls haben wir seltener von dort Besuch bekommen als von euch. So dröge war es dort. Dann brach die Mauer weg, und die Mauer war so was wie der Fußboden für alle Schiefgewickelten. Chaos schäumt hoch und zerbirst über der Skyline, durch die

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