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Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer

Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer

Titel: Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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Element war ein Experte im Überschreiten von Grenzen. Von ihm ließ Hiob sich erklären, wie man die eigene Kleidung, die eigenen Fingernägel und zusätzlich einen magisch induzierten Gegenstand von der Größe eines gewöhnlichen Teelöffels ins Traumreich mit rübernehmen konnte. Als Gegenleistung rechnete Hiob Element seine noch verbleibende Lebensspanne aus, aber da er auf das Ergebnis »236 Jahre« kam, musste er sich wohl irgendwie verrechnet haben und verließ das Hinterzimmer wieder, um vorne zu den neuesten und phattesten Beats ordentlich abzutanzen. Weit hinter der Mitternacht tastete er sich durch den Nebel zum Hotel durch und schlief bis in den späten Vormittag hinein richtig aus.
    Nach den widerlichen Sausages-und-Fettwaffel-Folterungen der britischen Frühstücksküche machte er sich mit der Hutschachtel unterm Arm auf zu Christie’s.
    Dort wollte man ihn wegen seines nicht allzu kapitalversprechenden Outfits erst gar nicht mit Sheyla Maldiera sprechen lassen, zumal die Lady alle Hände voll zu tun hatte, die morgige Auktion vorzubereiten, aber Hiobs Beharrlichkeit brach schließlich durch. Er hatte Erfolg damit, sich den Nimbus eines geheimnisvollen ausländischen Sammlungsstückanbieters zu geben. Miss Maldiera ließ ihn bitten. Sie war eine fast mädchenhafte, mit einer Aura von frischem Gras parfümierte Frau in den Fünfzigern, die Hiob sofort gefiel, weil sie diesen merkwürdigen Traum von der Wiedererlangung der Kindheit mittels Teddybären verschwenderisch durch ihre Augen nach außen strahlen ließ. Als Hiob ihr die Puppe zeigte, fing sie wirklich an zu weinen, und zwar vor Glück und Erstaunen und Unglauben. Wie in Trance brachte sie dem behutsam argumentierenden Hiob die Katalognummer 151 und erwähnte mit keiner Silbe, dass sie dadurch eventuell Schwierigkeiten bekommen würde. Sie bot Hiob nicht ihre Zimmerschlüssel an, hatte vielmehr keine Augen mehr für ihn, starrte nur noch die Puppe an. Als Hiob, von einem butlerhaften Bediensteten begleitet, das vornehme Gebäude wieder verließ, dachte er noch über die merkwürdige Ähnlichkeit zwischen Miss Maldiera und dem nach, was vom Gesicht der Puppe noch erhalten gewesen war. Aber der uralte Bär in seiner Schachtel war erstaunlich schwer und verlagerte mehrmals sein Gewicht, und Hiob ging mit ihm so schnell wie möglich durch die Waschküchenstraßen zum Hotel zurück. Er ließ den Bären in der Schachtel und suchte sich dann im Eastend einen Spezialistenladen, der ihm eine Stimmgabel aus ziemlich altem ungehärteten Schmiedestahl verkaufte. Hiob reichte dafür seine letzten alten Fünfzigmarkscheine rüber, die sowieso wegen der Einführung neuer Banknotenserien bald ungültig werden würden.
    Den Abend verbrachte er auf dem Bett sitzend, den aus der Schachtel geholten Teddybär sich gegenüber gegen das Fußbrett gelehnt. Sie maßen sich mit Blicken, der Magier und der Kindertrost, und als Hiob schließlich über dem Anblick der treuen, offenen braunen Glassteinaugen mit den schwarzen Pupillen über der handgestickten Nase aus braunem Garn einnickte, erfuhr er das Geheimnis.
    Er träumte wieder, aber diesmal war es keine filmisch aufbereitete Vision von einem Goldenen Zeitalter der Macht, das noch in einigen Jahren Entfernung lag, sondern es war eine Rückkehr in die düstersten Schründe der Kindheit. Hiob war wieder allein zu Hause, er war wieder etwa fünf oder sechs Jahre alt, seine Eltern waren wieder ausgegangen und hatten wieder versprochen, spätestens bis Mitternacht zurück zu sein. In dem sicheren Glauben, ihr Sohn würde fest schlafen und deshalb ohnehin nichts mitbekommen, vergnügten sie sich irgendwo zwischen den tanzenden Lichtern der Innenstadt, aber das konnte Klein-Hiob ja nicht wissen. Es war Stunden nach Mitternacht, Klein-Hiob lag im Bett wach und versuchte, sich damit abzufinden, dass seine Eltern nie mehr wiederkommen würden, dass sie irgendeinem schrecklichen Unfall zum Opfer gefallen waren und morgen fremde Polizeimänner in seinem Zimmer auftauchen würden, um die schreckliche Nachricht zu überbringen. Klein-Hiob hatte die Verfilmung von Oliver Twist gesehen, die mit Oliver Reed, und er sah sich schon in einem Waisenhaus dreckigen Haferschleim löffeln, aber von dieser Vorstellung einmal abgesehen war eigentlich ganz und gar nichts lustig an seinen Gedanken. Er war ganz alleine auf der Welt, noch zu klein, um für sich selbst zu sorgen, und dennoch einer, der nirgendwo mehr richtig dazugehörte. Der

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