Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
Knallköpfe vom Verfassungsschutz sind noch nicht hip genug, um das Internet kontrollieren zu können.« Er versucht, Friederike heldisch zuzulächeln. Obwohl es misslingt, lächelt sie aufmunternd zurück. Thilos Abzugfinger juckt. Nick schluckt runter, irgendwas Klobiges. »Heute ist Ruprechtsnacht, Thilo. Das heißt, heute Nacht gehen da draußen ganz andere Sachen vor als nur ein rotgekleideter lustiger Alter mit Rentieren und Geschenken. Wir haben den Tipp von einem Hellseher aus Nürnberg bekommen. Im Mangfallgebirge bei Sicheln ist in dieser Nacht im wahrsten Sinne des Wortes der Teufel los.«
Thilo blinzelt verwirrt. Friederike zieht die jetzt doch jammernden Kinder an sich.
»Ich kann euch ganze Bände von Geschichten erzählen über Weihnachten «, fährt Nick fort. »Die sogenannte Heilige Nacht ist bei Weitem nicht so harmlos und lieblich, wie die Medien und die werbetreibende Industrie uns das immer glauben machen wollen. Das fängt schon mit der Gründung des Weihnachtsfestes an. Im zweiten Jahrhundert nach Christus feierten die Frühchristen die Geburt ihres Heilands gar nicht um den 25. Dezember herum, sondern sie feierten Jesu Taufe am 6. Januar und gedachten in der Nacht davor Jesu Geburt. Erst im Jahre 354 hatte der römische Kaiser Konstantin, der das Christentum zur Staatsreligion machen wollte, die glorreiche Idee, Christi Geburt zwei Wochen nach vorne zu verlegen, und zwar auf den 25. Dezember. Und warum? Weil dies der Haupttag des heidnischen Sonnenfestes war, die Wintersonnenwende, der absolute Tiefstand der Sonne. Die sogenannte Julnacht. Konstantin hoffte – und er hatte ja recht damit –, dass man Heiden leichter zum Christentum werde bekehren können, wenn man ihre Festtage nicht ausmerzt, sondern sie einfach okkupiert, indem man christliche Festtage drüberstülpt. Ostern zum Beispiel ist nach der germanischen Frühlingsgöttin Ostara benannt, die zu Ostern heidnische Lust- und Fruchtbarkeitsfeierlichkeiten leitete. So konnten die alten Heiden Jesus einfach wie einen neuen Sonnengott ins Herz schließen, ohne sich allzu groß umstellen zu müssen. Ganz schön clever, was? Weihnachten also, das Fest der Liebe, wie wir es heutzutage feiern, hat im Grunde mit Christus überhaupt nichts zu tun, sondern ist ein altgermanisches heidnisches Fest, welches die Angst vor der Möglichkeit ausdrückt, dass das Licht vielleicht niemals wiederkehrt.«
Die Kinder, zu denen Nick die letzten Worte wie ein Märchenerzähler gesprochen hat, machen große Augen. Thilo grunzt. »Das ist doch Quatsch.«
»Das ist die Wahrheit«, sagt Nick eindringlich. »Ich schwöre! Man geht mittlerweile davon aus, dass Jesus irgendwann zwischen April und November geboren wurde, und zwar im Jahr Sechs oder Sieben nach Christus. Absurd, nicht wahr? Aber so ist es. Seine Zeitrechnung wie auch seine Geburt sind von römischen Kaisern und einem englischen Benediktinermönch namens Beda aus kühler Berechnung festgelegt worden.«
»Na gut, soll sein. Was hat das mit uns zu tun?«
»Na, kannst du dir das nicht denken? Es sind heidnische Dämonen, die heute Nacht da draußen umgehen! Wenn ich das richtig mitbekommen habe, hätte dich vorhin beinahe einer erwischt, wenn George dir nicht das Leben gerettet hätte.«
Wieder blinzelt Thilo. Schieß , fordert sein Finger, das ist die einzige Methode, die familiäre Ruhe wiederherzustellen . George rappelt sich so langsam auf, seine ausgeknockten Gliedmaßen entfalten sich wie die eines Weberknechts. Zur Abwechslung legt Thilo mal wieder auf ihn an. Das stellt den Finger ruhiger und gibt Nick Gelegenheit, freier von der Leber weg zu plaudern.
»Es gibt so verdammt viel heidnischen Aberglauben und dämonische Inkarnationen, dass es unmöglich ist, sie alle aufzuzählen. Einige sagen, in der Weihnachtszeit geht der vermummte Hans Ruprich um und schaut, ob die Kinder brav sind. Sind sie es nicht, peitscht er sie zu Tode. In den sogenannten Rauh- und Losnächten geht die Lucia um, eine Art Hexe in zerschlissener Kleidung und mit wirrem Haar. Sie schneidet unfolgsamen Kindern, die so unvorsichtig waren, das Haus zu verlassen, den Bauch auf und singt beim Sichelwetzen: ›A Schüsserl voll Darm, a Mölterl voll Bluat.‹ Nur ein Drudenfuß auf der Türschwelle kann den Lucia-Dämon fernhalten. Im Elsass fürchten sie sich vor dem in ein Bärenfell gehüllten Hans Trapp, dem Geist des hartherzigen Ritters Hans von Dratt, der im 16. Jahrhundert lebte. In Niederösterreich, also nicht
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