Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
her.«
»Ich war auch sechzehn«, sagte Sabrina, überrascht, dass sie das plötzlich so genau wusste. Jimmy, ein Junge aus dem Baseball-Team. Mit Sommersprossen. War vielleicht doch etwas dran an der Magie dieses Ortes?
»Du musst die Augen schließen.«
»Wie bitte?«
»Die Augen schließen«, wiederholte Luciana mit sanfter Stimme, »dann öffnen sich die Sinne, und die Erinnerung bekommt Flügel.«
Sabrina lehnte sich schweigend zurück, faltete die Hände im Schoß – und schloss die Augen. Sie hörte den leichten Wind in den Blättern rascheln. In der Ferne bellte ein Hund. Sie spürte das harte Holz im Rücken. Einmal mehr versuchte sie, in den Traum aus dem Flugzeug zurückzufinden. Das schleudernde Auto, die Leitplanke, der hagere Mann in den Rebstöcken … Aber stattdessen drängte sich Eva-Maria ins Bild, sie lief vor ihr her, drehte sich lachend um, sagte etwas und blieb doch gleichzeitig stumm, nahm das Ende ihres langen gelben Seidenschals in die Hand und drehte ihn kichernd wie einen Propeller. Plötzlich wurde es dunkel, ein großer schwarzer Vogel flog auf sie zu. Erschrocken schlug sie die Hände vors Gesicht. Jetzt war wieder Eva-Maria zu sehen. Sie rannte zu ihrem Auto. Hinter ihr lief eine zweite Person, kam ihr näher, strauchelte … Die zweite Person? Das war sie selbst, Sabrina. Nun hatten sie das Auto erreicht, sprangen hinein, fuhren mit durchdrehenden Rädern los. Sie sah Pappeln vorbeifliegen, eine Wiese mit roten Blumen, eine kleine Kirche … Sabrina umklammerte die Bank. Es begann sich alles zu drehen, die Bäume, das Auto. Ein Gesicht kam näher, wurde aber im gleichen Maße unschärfer, löste sich in Nebel auf, bevor sie jemanden erkennen konnte. War das Cherubino gewesen, der sie aus dem Auto gerettet hatte? Oder Gianfranco? Nun wurde es wieder dunkel. Sabrina fürchtete sich vor dem schwarzen Vogel und öffnete schnell die Augen.
Kein schwarzer Vogel, der sie bedrohte, nein, der Traum, er war vorbei, die Wirklichkeit hatte sie wieder. Sie blickte über Rebstöcke auf friedliche Hügel, atmete die würzige Luft ein, hörte auf den Wind in den Blättern der Kastanie.
»Die Erinnerung bekommt Flügel«, sagte Luciana, »ich hatte Recht, oder?«
Sabrina nickte. »Die Flügel eines schwarzen Vogels.«
»Waren das keine guten Erinnerungen?«
»Nein, sie machen mir Angst.«
65
E inige Stunden später, am frühen Abend, spritzte Hipp seine Ape mit dem Gartenschlauch ab, aber nur flüchtig, viel Wasser hatte er nicht. Er wollte nach Bolgheri fahren, um in der Trattoria del Pittore* zu essen. Ein Cinghiale in Rotwein? Oder sollte er doch lieber nach Montescudaio ins Ristorante Frantoio*? Dort gab es vielleicht Baccalà, Stockfisch. Hipp musste unwillkürlich grinsen. Am besten rief er Viberti an, der würde ihn gewiss mit großer Leidenschaft beraten – auch wenn er weder das eine noch das andere Lokal kannte. Er drehte das Wasser ab. Das war überhaupt eine gute Idee. Er hatte vom Maresciallo schon seit Stunden nichts mehr gehört. Hoffentlich lief alles nach Plan.
Hipp räumte den Schlauch weg, ging ins Haus und rief in Alba an. Viberti war trotz der späten Stunde noch im Büro. Wie er berichtete, lief alles wie am Schnürchen. Die Polizei habe einige Telefonate zwischen Melissa und Lausitz abgehört, der Tedesco habe den Köder geschluckt. Eigentlich könne man ihn schon aufgrund dieser Gespräche verhaften. Leider würden die Tonbänder vor Gericht nicht anerkannt werden. Der Lastwagen mit der getürkten Lieferung stehe bereit. Der Fahrer lenke sonst einen Gefangenentransporter der Carabinieri. Er lege mehrere Stopps ein, um den Diebstahl zu erleichtern. Wie es scheine, habe im Auftrag von Lausitz ein gewisser Serafino Panepinto die operative Leitung. Und wenn sie sich bei einem weiteren Telefonat nicht verhört hatten, werde die gestohlene Lieferung direkt zu Lausitz gebracht.
»Perfetto«, sagte Hipp im Ton des Avvocato Balducci. »Maresciallo«, schloss er eine Frage an, »was würden Sie an meiner Stelle heute Abend lieber essen, Cinghiale in Rotwein oder Baccalà?«
»Ich bin nachher zu einem Fritto misto eingeladen, Lammleber, Hähnchenbrust, Artischockenschnitzel, frittiert in frischem Öl. Das wäre was für Sie. Dazu eine Flasche Barolo von Bartolo Mascarello. Buonissimo. Wie war noch mal die Frage? Cinghiale oder Baccalà?« Viberti schmatzte genießerisch. »Wildscheinbraten mit Rotwein übergossen, in einer Terrine mariniert, mit Rosmarin und Salbei?
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