Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
etwas falsch gemacht?
Hipp gestand sich ein, dass er gekränkt war. Und enttäuscht. Er hatte Sabrina in den letzten Wochen in sein Herz geschlossen, hatte versucht, ihr zu helfen, hatte auf sie aufgepasst, war ihr näher gekommen, hatte mit ihr geschlafen. Dabei hatte Sabrina ihm das Gefühl gegeben, dass die Zuneigung durchaus gegenseitig war, vor allem in den letzten Tagen ihres Zusammenseins. Warum dann dieser Vertrauensbruch? Er könnte Sabrina anrufen und sie fragen. Aber das ließ sein verletzter Stolz nicht zu. Auch könnte er mit Fabri sprechen, ihn nach seinem Eindruck fragen und sich nach ihrem Wohlergehen erkundigen. Aber auch dazu hatte er keine Lust. War er vielleicht eifersüchtig? Nein, das nicht, jedenfalls nicht wirklich. Seinem Gefühl nach war Sabrina nicht wegen Fabri ins Piemont gefahren. Es war sogar gut, dass er dort war und sich um sie kümmern konnte.
Der Gedanke musste ihr auf dem Flug nach Mailand gekommen sein, spontan und ohne Kalkül. Womöglich war ihr irgendetwas eingefallen, und sie wollte im Piemont die Spur ihrer Erinnerung aufnehmen. Wie den Ariadnefaden in der griechischen Mythologie, der Theseus aus dem Labyrinth geführt hatte. Vielleicht hatte sie diesen Faden gefunden. Schön wär’s. Aber lebte nicht ein Ungeheuer in diesem Labyrinth? Hipps Gedanken schlugen Kapriolen. Minotaurus, halb Stier, halb Mensch. War Gianfranco dieser Minotaurus? Musste Theseus ihn töten? Und wenn Sabrina in diesem Spiel Ariadne war, die Tochter von Minos, wer übernahm dann die Rolle von Theseus?
Hipp erinnerte sich an Vibertis Worte. Vielleicht stimmte es, dass sie ihr Schicksal endlich in die eigenen Hände nehmen wollte. Dagegen wäre nichts zu sagen. Aber warum hatte sie ihn angelogen? Die Antwort war einfach. Weil sie wusste, dass er damit nicht einverstanden gewesen wäre. Er hätte es ihr im Namen ihres Vaters verboten, zu ihrem eigenen Schutz. Und wenn sie doch gefahren wäre, dann hätte er sie begleitet, hätte ihr Ratschläge gegeben, wäre ihr kaum von der Seite gewichen – zugegeben, das war vermutlich nicht gerade, was sich Sabrina unter Selbstbestimmung vorstellte.
Nachdem Theseus den Minotaurus getötet hatte, war er mit Ariadne über das Meer geflohen. Auf der Insel Naxos ließ er sie schlafend zurück und segelte alleine weiter. Wohl auch so etwas wie ein Vertrauensbruch, zudem ausgesprochen undankbar. Wer hatte Ariadne schließlich Trost gespendet? Wenn er sich nicht täuschte, war das Dionysos gewesen, der griechische Gott des Weines und der Ekstase. Des Weines? Hipp nahm einen Schluck aus seinem Glas. Er glaubte sich zu erinnern, dass Dionysos, aus dem in der römischen Mythologie Bacchus wurde, Ariadne später sogar zur Braut genommen hatte. Nun, diese Analogie brachte ihn nicht weiter. Wobei der Bezug zum Wein schon interessant war. Wie war er gleich darauf gekommen? Ach so, wegen des Fadens, den Sabrina im Piemont zu finden hoffte und der ihre Erinnerung aus dem Labyrinth des Vergessens zurück ans Tageslicht bringen sollte.
Bei den Römern gab es die Bacchanalien, exzessive Trinkgelage, die schließlich verboten wurden. Aber der Kult des Dionysos, er hatte die Zeiten überdauert. Ebenso wie der Mythos Wein. Hipp nahm die Flasche und schenkte sich nach. Was hatte er eigentlich mitgenommen? Er sah auf das Etikett. Einen Barolo Percristina von Domenico Clerico* aus Monforte d’Alba. Keine schlechte Wahl. Vielleicht etwas zu teuer für einen Abend, an dem er dem Wein nicht die gebotene Wertschätzung entgegenbringen konnte. Monforte d’Alba? Da hatte er sich unbewusst in Sabrinas unmittelbare Nachbarschaft begeben. Er schwenkte das Glas und schnupperte an den Aromen, die sich in seiner Nase mit der salzigen Luft des Meeres vermengten. Domenico Clerico wusste, wie man großartige Weine machte.
Er lehnte sich zurück und sah hinauf zu den Sternen. Dabei dachte Hipp, dass auch er einen Ariadnefaden gut gebrauchen könnte, der ihn durchs Labyrinth zur Wahrheit führen würde. Die Wahrheit? Was war dran an seiner Theorie, über die er mit Viberti gesprochen hatte? Mit jeder Minute, die er länger über sie nachgrübelte, wurde ihm klarer, dass er sich auf dem Holzweg befand. Nein, so konnte es nicht gewesen sein. Aber was war dann geschehen? Hipp roch am Glas. In vino veritas? Ja, das wäre schön, wenn sich in diesem Percristina die Wahrheit spiegeln würde. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen wurde er zunehmend müder. Das immer wiederkehrende Geräusch der
Weitere Kostenlose Bücher