Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
Motor zu hören, das plötzliche Bremsen, das Quietschen der Reifen auf dem Asphalt, er sah den verzweifelten Versuch von Eva-Maria, das Auto auf der Straße zu halten, die Räder nach links eingeschlagen, vergeblich, dann das Krachen gegen die Leitplanke … Hipp machte die Augen wieder auf. Seltsam, der Film in seinem Kopf und diese Straße vor ihm, das passte irgendwie nicht zusammen. Der Streckenabschnitt von der vorangegangenen Kurve war viel zu kurz, um die erforderlich hohe Geschwindigkeit erreichen zu können. Er stand auf und studierte die Bremsspuren, die zum Durchbruch in der Leitplanke führten. Nein, auch diese wollten nicht so recht zu seinem Film passen. Wie war dieser scharfe Knick zustande gekommen? Und warum gab es von oben gesehen links daneben weitere Bremsspuren? Nun gut, diese konnten älteren Datums sein, oder sie waren ganz neu. Aber dieser Knick? Hipp machte wieder die Augen zu und ließ erneut den Film ablaufen. Er schüttelte den Kopf, stieg über die Leitplanke und kletterte den Weinberg hinunter zu Cherubino. Nach anfänglicher Zurückhaltung gab dieser bereitwillig Auskunft, schilderte, wie der blaue Fiat geradeaus durch die morsche Leitplanke gebrochen und zunächst mit allen vier Rädern nach unten auf den Rebstöcken gelandet sei. Erst danach habe sich der Wagen gedreht, um schließlich auf dem Dach nach unten zu pflügen.
Hipp musste nicht erneut die Augen schließen, um festzustellen, dass dieser Hergang mit dem Film in seinem Kopf nicht übereinstimmte. Das Auto hätte bei einer überhöhten Geschwindigkeit nie im rechten Winkel, also geradeaus durch die Leitplanken brechen dürfen, schon eher irgendwie schräg oder noch viel wahrscheinlicher komplett mit der Breitseite, um sich dann sofort zu überschlagen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Um dies herauszufinden, musste man kein Experte für Verkehrsunfälle sein. Ihm war egal, was Cherubino von ihm dachte, und er machte erneut die Augen zu. Er probierte es mit einem anderen Film. Plötzlich schien alles zu passen.
»Haben Sie außer dem verunglückten Fiat ein weiteres Auto gesehen?«, fragte er unvermittelt.
Cherubino schüttelte den Kopf, um dann nach einer kurzen Bedenkzeit zu sagen: »Vista no, ma sentita.«
»Gehört?«
»Ja, das fällt mir erst jetzt wieder ein, weil Sie mich danach fragen. Aber das Motorengeräusch ist schnell leiser geworden. Außerdem bin ich da schon losgerannt, hinunter zum Unglücksauto.«
Hipp unterhielt sich noch einige Minuten mit dem Weinbauern. Er versprach, irgendwann mit Sabrina vorbeizukommen, bei Cherubino zu Hause in Verduno, bestimmt wolle sie sich persönlich bei ihrem Lebensretter bedanken. Aber noch sei sie zu schwach dafür. Dann verabschiedete er sich und stieg den Weinberg hinauf zur Straße. Dabei gingen ihm einige Gedanken durch den Kopf, die zumindest eines gemeinsam hatten: Sie wollten ihm nicht gefallen!
14
S ind Sie müde?«, fragte Fabri, als er Hipp gähnen sah.
»Ja, ein klein wenig, tut mir Leid«, entschuldigte er sich. »Ich habe letzte Nacht ziemlich schlecht geschlafen.«
»Aber Sie probieren trotzdem von den Weinen unserer Cantina?«
»Aber natürlich«, versicherte Hipp, »deshalb bin ich doch hier. Nochmals vielen Dank für Ihre Einladung.«
»Es ist mir ein Vergnügen. Sie interessieren sich doch ein wenig für Wein?«, fragte Fabri vorsichtig nach, während er hinter der Degustationstheke aus einer langen Reihe von Flaschen bedächtig ausschenkte und die Gläser vor Hipp nebeneinander aufbaute.
»Ja, durchaus«, antwortete Hipp.
»Sie müssen die Gläser nicht alle austrinken«, sagte Fabri lächelnd und deutete auf einen silbernen Kübel. »Ausspucken wird von mir nicht als Beleidigung empfunden.«
»Das ist erfreulich. Im anderen Fall könnte ich mich hier gleich zur Ruhe betten. Übrigens soll ich Sie von Sabrina grüßen.«
»Vielen Dank, das freut mich. Wie geht es ihr?«
»Eigentlich ziemlich gut, ich denke, dass sie schon in wenigen Tagen entlassen wird.«
»Che bello! Wenigstens hat es das Schicksal mit Sabrina gut gemeint, wenn schon Eva-Maria …« Fabri sprach den Satz nicht zu Ende, schüttelte den Kopf und nahm das nächste Glas, um es mit Wein zu füllen. »Und was ist mit Sabrinas Amnesie?«, fragte er. »Kann sie sich mittlerweile an ihre Vergangenheit erinnern oder was am Tag des Unfalls geschehen ist?«
»Nein, noch nicht. Ich denke, das wird dauern.«
Fabri schenkte die Flaschen so aus, dass sie von der Theke verdeckt wurden.
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