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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Keller
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den Tisch, Anna fingerte kurz an dem Kochbuch herum, erhob sich wieder, fragte »Kaffee?« und blickte mich erwartungsvoll an. Mir fiel auf, wie dünn sie war. Dünner denn je. Meine Finger griffen zum Kochbuch, ich nickte. »Wo sind die Kinder?«, rief ich ihr hinterher und blätterte in den Frühlingsgerichten.
    »Beim Turnen, meine Nachbarin hat sie mitgenommen«, rief sie zurück und hantierte lautstark mit den Schubladen.
    »Sprecht ihr wieder miteinander?«, fragte ich, als sie mit einem gefüllten Tablett zurückkam, das sie auf der Mitte des Tisches abstellte.
    Anna runzelte die Stirn. »Nicht viel. Aber mit dem Turnen, das hat sich so ergeben. Und sie fährt gerne Auto, ihr macht es nichts aus.«
    Aha, dachte ich, im Gegensatz zu dir. Neugierig nahm ich die hauchzarte Serviette entgegen, die Anna mir hinhielt, und erinnerte mich daran, dass sie schon früher nicht gerne Auto gefahren war. Unser Vater musste sogar ihr Auto betanken, weil sie sich das nicht zutraute.
    »Ich habe Angst, dass mir der Zapfhahn aus der Hand rutscht, das Benzin auf den Boden läuft und die Tankstelle in die Luft fliegt«, hatte sie als Achtzehnjährige erklärt. Darüber hatten wir uns lustig gemacht, damals, und uns gefragt, was wohl passierte, wenn sie eines Tages auszog. Würde sie sich jemanden mieten, der für sie tankte?
    »Tankst du immer noch nicht selbst, oder weißt du inzwischen, wie das geht?«, frotzelte ich und griff nach einem der Kekse, die sie ebenfalls auf den Tisch gestellt hatte.
    »Nein«, antwortete sie knapp, »Matthias tankt.« Demonstrativ griff sie nach dem Kochbuch und begann, darin zu blättern. Ich fragte nicht weiter. Es interessierte mich auch nicht, was für eine Ehe das war, in der der Mann die Rolle des Vaters übernahm. So langsam wunderte mich gar nichts mehr, auch nicht Matthias' Verhalten. Im Gegenteil, dachte ich und kaute an meinem Keks, es erschien mir allmählich logischer als Annas sonderbare Eigenarten.
    Um das Thema zu wechseln, fragte ich beiläufig: »Sag mal, was ist eigentlich aus der Anzeige geworden, wegen der Matthias vor Gericht aussagen musste?«
    Plötzlich gefror die Luft. Ohne aus dem Kochbuch aufzusehen, hielt Anna in ihrer Bewegung inne, erstarrte geradezu. Auf einmal konnte ich eine Uhr ticken hören, die auf einem Beistelltischchen stand, eine kleine silberne Uhr, die ich noch nie zuvor bemerkt hatte. »Was ist denn los?«, fragte ich erstaunt und fühlte mich unmittelbar schuldig. Mir war unerklärlich, in welches Wespennest ich gestochen, welche offene Wunde ich mit meinem arglosen Geplapper mit Säure übergossen hatte. Ihr Kinn zitterte merklich, der Rest des Gesichts blickte wie eingefroren auf ein Salatrezept. Entsetzt griff ich nach ihrem Arm, den sie mir sofort entzog, um die Tränen aufzuhalten, die ihr aus den Augenwinkeln rannen. Wie mir schien, zitterte nicht mehr nur ihr Kinn, sondern die ganze zarte Frau, die meine Schwester war. Mich überkam die blanke Hilflosigkeit. »Um Himmels willen, Anna!«, rief ich, legte den Keks beiseite und sprang auf, um sie bei den Schultern zu nehmen. »Was hab ich denn Schlimmes gesagt? Ich wollte doch nur ein bisschen plaudern, einen Kaffee trinken! Was hab ich denn bloß gesagt?«
    Und da plötzlich ging ein Ruck durch sie. Sie schien sich mächtig anzustrengen, sich am Riemen zu reißen, straffte Arme und Schultern, und fragte tonlos – so leise, dass ich es fast nicht verstehen konnte: »Was weißt du darüber?«
    Ich stand neben ihrem Stuhl und sah, dass die Hände in ihrem Schoß zitterten; sie hielten sich krampfhaft aneinander fest, eine an der anderen, als fürchteten sie, davonzufliegen.
    »Also«, räusperte ich mich und suchte nach Worten, »ich weiß nur, dass einer seiner Kollegen ein Ding gedreht hat mit einem Haus – ich glaube, es ging um das Haus, dass er uns verkaufen wollte – und, naja, die Sache kam irgendwie vor Gericht und Matthias musste als Zeuge aussagen. Mehr weiß ich auch nicht!«, beteuerte ich.
    Sie legte ihren Kopf schräg, wie ein Reptil, das seine Beute ins Auge gefasst hat. In ihrem Kopf arbeitete es, ich sah förmlich die Synapsen vor mir, wie sie an losen Enden im Gehirn hin und her schwangen, wie Lianen, die sich im Sturm gelöst haben, Halt suchend, aber keinen findend. Die Hände, die sich eben noch so krampfhaft aneinander festgehalten hatten, knallten plötzlich wie eine Bombe auf den Tisch, so dass ich heftig zusammenzuckte.
    »Er lüügt!«, schrie sie.
    »Aber …«, setzte ich

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