Hirngespenster (German Edition)
Kochen. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir mit Bärlauchrezepten. Sie interessierte sich besonders für Salatvariationen, dabei hasst sie seit jeher Salat. Plötzlich will sie Matthias was Gutes tun, der das Zeug jedes Frühjahr im Wald pflückt, und ich soll auch in den Genuss kommen, obwohl ich das Zeug nicht mag, das weiß sie ganz genau. Sie wirkt so was von … gestört! Und dann stellt sich auch noch raus, dass sie zu gar keinem Psychiater geht – angelogen hat sie mich, die ganze Zeit!«
»Tja«, sagte er, »was soll man dazu sagen.«
Ich lachte. »Danke. Sehr hilfreich!«
»Manche Menschen können eben nicht so gut über ihre Probleme reden. Könnte ich auch nicht. Da gehört schon was dazu, zu so einem Psychoheini zu gehen und ihm zu erklären, wovor man Angst hat oder was man als Kind erlebt hat. Missbrauch, die ganze Palette.«
»Das sind doch Vorurteile«, sagte ich, »da geht es doch ganz behutsam voran. Die sprechen bestimmt nicht über Sachen, über die der Patient nicht sprechen will.«
»Worin läge denn der Sinn einer Therapie, wenn es Tabuthemen gäbe? Genau um die geht es doch! Gut, vielleicht tasten die sich langsam ran, aber die Bereitschaft zum Reden muss schon da sein. Du gehst ja auch nicht zum Chor und weigerst dich zu singen. Ich glaube, die Wartelisten bei den Psychologen und Psychiatern sind so lang, die können sich ihre Leute aussuchen. Und wenn dann eine kommt, die sich hinsetzt, aber nicht reden will, und stattdessen so eine Art Wunderheilung erwartet, dann schicken sie die doch wieder heim. Der Nächste bitte!«
»Verstehe«, sagte ich. »Aber, weißt du, für die, die nicht reden wollen, gibt es doch bestimmt auch 'ne Lösung. Irgendwelche Pillen vielleicht.«
»Silvie. Die machen doch abhängig, das weiß doch jeder. Du wirst doch bitte deiner Schwester nicht zu Tabletten raten wollen – statt Therapie?«
Dabei hatte sie schon mal welche genommen, ich hatte sie ihr selbst besorgt. Wann war das noch gewesen? »Aber wenn sie doch nicht reden will!?«, rief ich.
»Vielleicht ist sie irgendwann so weit – nur jetzt noch nicht.«
Das hoffte ich auch. Und ich fragte mich, was es nur sein konnte, das sie erlebt hatte. Missbrauch? Darum ging es doch meistens. Aber bei Anna? Niemals. Mein Vater war ausgeschlossen; in die Kirche waren wir nie gegangen. Ihre Querflötenlehrerin kam auch nicht in Frage. Aber was sonst?
Ich kam nicht drauf. Mein Gott, ich kam einfach nicht drauf.
Was sicherlich auch daran lag, dass ich anderes im Kopf hatte – nach wie vor.
Jens und ich schmiedeten weiter theoretische Pläne für unser künftiges Zusammenleben. An unserem Jahrestag wurde es konkret. Wir gingen aus, aßen in einem japanischen Restaurant, der Fisch brutzelte vor uns auf der heißen Platte, wir hatten Lätzchen um den Hals, fütterten uns mit der Vorspeise, und ich beschloss, am darauffolgenden Sonntag bei ihm einzuziehen. »Ich kann nicht mehr«, sagte ich. »Ich will nicht mehr lügen und mich aus dem Haus schleichen. Ich will nicht mehr jede SMS von dir löschen müssen, weil ich Angst habe, dass er mein Handy in die Finger kriegt. Ich will nicht mehr täglich Ausreden erfinden, warum ich auf dem Sofa schlafen möchte, weil ich dort angeblich besser liege oder mich sein Schnarchen stört oder ich Schnupfen habe und ihn nicht stören will.«
Ich konnte nicht mehr so weitermachen wie bisher. Johannes und ich, das war Vergangenheit.
Oftmals schaute er mich über unseren Küchentisch hinweg fragend an, und ich rechnete klopfenden Herzens damit, dass er sagte: »Silvie, es geht nicht mehr.« Natürlich war das ein Wunschgedanke – damit würde er mir die schwere Bürde abnehmen, unsere Familie auseinanderzureißen. Doch über diese Blicke hinaus geschah nichts. Außer dass er mich zwei- oder dreimal fragte, ob ich Sorgen hätte, mit den Jungs oder mit dem Verlag. Ich verneinte, sagte, ich sei nur nicht gut drauf. Darauf nickte er, und wir wechselten das Thema – vorausgesetzt wir sprachen überhaupt miteinander.
»Am Sonntag also«, sagte ich, und Jens nahm mein Gesicht zwischen seine Hände, küsste mich fest und stürmisch. Der japanische Fischbrutzler lächelte und rief etwas Japanisches; es klang wie eine Ladung aus einem Maschinengewehr. Wir hoben unsere Gläser und prosteten ihm zu.
Dass wir uns zunächst keine neue Wohnung suchen wollten, war wohlüberlegt. Es war an sich schon alles grausam genug, aber auf diese Weise erschien es mir schonender für Johannes.
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