Hirngespenster (German Edition)
hinaufnehmen, ohne die Alben mitzunehmen! Sabina schüttelte mich schließlich und rief: »Du willst hier unbedingt rein? Na gut, du gibst ja doch nicht auf!« Klappte mir die Hände von der Türklinke und schloss endlich die Tür auf, ließ mich hinein. Ich tippelte zum Regal, und da standen sie, alle fein säuberlich aufgereiht in einer Linie, direkt vor meiner Nase. Ich griff mir eines und ließ mich an Ort und Stelle damit auf den Boden nieder. Johannes betrat ebenfalls den Kellerraum und sagte: »Ich hab doch letztens erwähnt, dass noch Alben im Keller sind. Meinst du etwa, sie hat sich das gemerkt?«
Sabina schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich sage doch die ganze Zeit, dass sie alles versteht! Schau dir dieses schlaue Köpfchen an.«
Diesmal nehme ich mir viel Zeit für die Bilder. Anna ist auf einigen zu sehen – immer zu Ostern und Weihnachten und an den Geburtstagen schossen wir Fotos. Anna und ich sind meistens mit den Kindern abgelichtet. Eine glückliche Familie. Johannes setzt sich zu mir auf den Boden, nimmt meine Hand und führt meine Finger zu den einzelnen Personen – »Opa und Oma, Ole und Nils, Emma, Anna …«. Dann schluckt er und fährt mit meinem Finger weiter zu einem anderen Foto. »Matthias«, krächzt er, »und …«. Er räuspert sich und küsst mein Haar. Ich greife nach seiner Hand und führe sie zu einem Bild, darauf sind er und ich zu sehen. Nils war gerade geboren, und der Kleine liegt in meinem Arm. Johannes nickt, wirft Sabina einen unsicheren Blick zu und sagt: »Ja, Engel. Das ist aus früheren Zeiten.« Meine Hand führt seinen Finger weiter zu einem Bild mit Anna. Erwartungsvoll sehe ich ihn an. Er lächelt wieder. »Das ist auch aus früheren Zeiten. Alles hier drin ist … Vergangenheit.« Ich schlage mit meiner flachen Hand auf Annas Bild und lege den Kopf schräg. »A-a-a?«
»Das ist Anna«, erklärt er und sieht mich belustigt an. Ich lege wieder den Kopf schräg. Kommt da noch was? Johannes wendet sich Sabina zu, die uns beide unverwandt ansieht. »Das mit Anna ist eine lange Geschichte«, sagt er und lacht dann lauthals über mein betroffenes Gesicht.
Die Alben nehmen wir alle mit nach oben. Damit ich sie mir öfters ansehen kann.
Silvie
Wie gesagt, eine Freundin fehlte mir, aber immerhin hatte ich eine Schwester. Zu dieser Zeit schien es recht ruhig um Anna zu sein, ich hatte seit Weihnachten nichts Beunruhigendes gehört, weder von ihr noch von meinen Eltern. Ich deutete das als gutes Zeichen. Alles ruhig in Bad Homburg. Andererseits, konnte ich Anna mit meinen Problemen belasten? Welchen Rat erhoffte ich mir von ihr? Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir: Ich wollte keinen Rat, ich wollte Absolution! Und nicht nur das, ich sehnte mich nach einer Ermunterung, einem fröhlichen: »Nur zu, Silvie, verlass Johannes, er ist sowieso eine Niete.«
Es war unwahrscheinlich, dass sie etwas Derartiges sagen würde. Trotzdem beschloss ich, mich mit ihr zu treffen. Erstens hatten wir uns lange nicht gesehen, zweitens war es vielleicht auch ein Auftakt zu einer neuen Ära der Schwesternschaft, vorbei die Zeit der Missgunst ihrerseits und des Misstrauens meinerseits. Wir waren gleichwertig, jede hatte ihr Päckchen zu tragen. Vielleicht konnten wir uns gegenseitig unterstützen, uns zur Seite stehen – unglücklich verheiratet waren wir beide.
Dass es für eine Basis mehr braucht als paralleles Unglück und dass ich wieder einmal auf dem Holzweg war, zu denken, in Anna ein Gegenüber zu haben, das mir gewachsen war – an solche Dinge verschwendete ich keinen Gedanken.
Als Anna mir die Tür öffnete, war sie ausgesprochen gut gelaunt, empfing mich betont herzlich, umarmte mich mit weit von sich gestreckten Armen, um Körperkontakt zu vermeiden, und auch beim Wangenkuss warf sie den Kopf so weit herum, dass ich die Wange verfehlte und mit den Lippen ihr weiches Ohrläppchen berührte.
»Grüß dich!«, sagte sie, als habe sie nichts davon bemerkt, nahm mir die Babytrage ab und bat mich in ihr perfekt aufgeräumtes Haus. Auf dem Wohnzimmerglastisch stand eine Vase mit roten Tulpen, die in ihrer satten Farbe leuchteten, angestrahlt von der Sonne, die durchs blankgeputzte Fenster schien. Die beigen und weißen Kissen lagen in perfektem Abstand zueinander auf dem grauen Sofa, jeder Stuhl war an den Tisch gerückt. Einzig auf dem Esstisch lag ein aufgeschlagenes Kochbuch – offensichtlich hatte sie darin gestöbert, bevor ich kam. Wir setzten uns an
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