Hirngespenster (German Edition)
die Hand. »Ich bin der Max«, sagte er freundlich. Ich lächelte verlegen, und Johannes sagte: »Ich habe dir ja gesagt, sie spricht nichts.«
Ich setzte mich neben Johannes auf einen Stuhl, und als die Kellnerin das Sushi brachte, stellte mir Johannes eine kleine Auswahl zusammen. »Für dich«, sagte er und überreichte es mir feierlich. Früher mochte ich es ja. Aber da, in dem Moment, ach du meine Güte, da fand ich es widerlich. Abartig. Ich konnte nicht anders, ich spuckte alles wieder auf meinen Teller, und dieser Max schürzte die Lippen: »Das war wohl nix.« Und Johannes sagte: »Perlen vor die Säue.«
Also wirklich.
Ich bin schon wieder abgedriftet. Johannes hat zwei Ordner aufgeschlagen vor sich liegen, einen davon kenne ich gut, den habe ich selbst angelegt – damals umfasste er nur ein paar Blätter. Darin sind Unterlagen von Nils und Ole, lauter Kram, der mit den beiden zu tun hat. Krippe, Kindergarten, bald kommt die Schule dazu. Er setzt sich eine kleine Brille auf, die er sich vor kurzem angeschafft hat, und greift zum Telefon. Es dauert nicht lange, da nimmt auf der Gegenseite jemand ab.
Als sei es das Natürlichste von der Welt, dass er Jens anruft, sagt er: »Guten Tag, Jakobi mein Name. Ich hätte gern Herrn Reimer gesprochen.« Und dann: »Jens Reimer, stimmt genau.«
Ich weiß nicht, was los ist, Johannes macht plötzlich ein sehr betroffenes Gesicht. »Oh nein, das tut mir leid«, sagt er und starrt auf die Tischplatte, während in der Leitung weitergesprochen wird. Ich hänge an seinen Lippen, gebe keinen Mucks von mir. Er ergreift schließlich meine Hand und sagt in den Hörer: »Keine Ahnung, wieso Ihnen mein Name bekannt vorkommt, vielleicht, weil es einen Versicherungsfall gab, meine Frau …« Er lauscht. »Ja, genau, Silvia Jakobi.«
Wieder Geplapper auf der anderen Seite.
»Ja, das war schrecklich, ein Aneurysma, ganz plötzlich. Aber wissen Sie, so seltsam es ist«, fügt er nachdenklich hinzu, »das Leben geht trotzdem irgendwie weiter.«
Für dich vielleicht, denke ich und möchte endlich wissen, was mit Jens ist. Kann er doch nicht vorbeikommen? Ich werde nicht daraus schlau, Johannes' Gesicht wird lang und länger, richtig geschockt sieht er aus. Dann wird das Gespräch plötzlich beendet. Er sagt noch, er müsse die Nachricht erst einmal verdauen und werde sich wegen seines Anliegens in den nächsten Tagen noch einmal melden. Dann starrt er die Wand an.
»Da nimmt der sich einfach das Leben«, sagt er plötzlich und streichelt wieder meine Hand.
Ich kann wenig anfangen mit dem, was er sagt. Wer, »der«?
»Herr Reimer schmeißt sich vor einen Zug«, sagt Johannes wieder und klappt die Ordner zu, »wer soll das begreifen?«
»Vielleicht war er depressiv«, sagt Sabina, als sie nach Hause kommt, und mustert mich besorgt, weil ich schon den ganzen Tag weine.
Johannes hebt die Schultern. »Seine Kollegin sagte, er habe seine Freundin durch einen Unfall verloren, und das habe er nicht verkraftet. Die beiden hatten gerade zusammenziehen wollen.«
»Ohje, das ist ja schrecklich«, sagt Sabina und macht ein betroffenes Gesicht.
»Ja«, nickt er. »Da waren wohl auch Kinder der Frau im Spiel, an denen er hing – sie hatte sich von ihrem Mann trennen wollen.«
Sabina schüttelt betrübt den Kopf. »Und was ist eigentlich mit ihr los?«, fragt sie schließlich und streichelt mir mitleidig über die Wange.
»Sie heult, seitdem ich mit Herrn Reimers Kollegin telefoniert habe.«
»So sensibel«, sagt Sabina und zieht mich an sich.
Sabina
Der Umschlag in ihren Händen verhieß nichts Gutes, das sah Sabina auf den ersten Blick. Erstens erhielt sie normalerweise keine Einschreiben. Noch dazu war dieses hier von Alex – seine Adresse stand kleingedruckt über ihrer Anschrift im Sichtfenster, abgetrennt durch eine feine Linie. Es handelte sich wohl kaum um einen persönlichen Brief. Abgesehen davon, dass sie sich sonst – wenn auch nicht oft – unter ihren E-Mail-Adressen geschrieben hatten. Seit dem Heiligen Abend allerdings nicht mehr.
Was er ihr wohl schickte?
Hoffentlich keine Klage. Wegen verschmähter Liebe oder so etwas. Sabina klemmte sich die Umschläge unter den Arm und stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. In der Küche legte sie alles auf dem Tisch ab und setzte sich auf einen Stuhl. Sie war auf alles gefasst und wusste doch nicht, womit sie zu rechnen hatte. Behutsam steckte sie ihren Daumen unter den Falz und öffnete den Umschlag mit gekonnten
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