Hirngespenster (German Edition)
Opfer, die Bevölkerung ist kurz vorm Durchdrehen, möglicherweise ist dies der Beginn des Dritten Weltkrieges.« Doch George W. blickte nur einmal kurz versonnen in die Ferne und las daraufhin ruhig weiter aus seinem Bilderbuch vor. Er sprang nicht auf und rief: »Liebe Kinder, entschuldigt mich bitte, ich muss dringend weg, die Welt retten!« Nein, er las ruhig weiter. Und ich kochte Kaffee. Andererseits, was den Rest des Tages betraf, war er von wildem Aktionismus bestimmt gewesen. Ich war doch ein klitzekleines bisschen besser als George W.
Als ich mit dem Kaffee das Wohnzimmer betrat, standen die beiden Polizisten vor Christine Brückner und Markus Schüssler und erkundigten sich, ob ihnen im Hause Ziegler in der letzten Zeit etwas Besonderes aufgefallen sei, Streit zwischen den Eheleuten beispielsweise. Oha, dachte ich. Mich oder meine Eltern hatten sie das noch gar nicht gefragt. Die beiden Anwesenden blickten unsicher von einem zum anderen.
»Ganz normal«, sagte Christine Brückner schließlich und schien mir mit ihrem Blick etwas sagen zu wollen.
Markus Schüssler hob die Schultern. »Über Privates haben wir so gut wie nie gesprochen, Herr Ziegler hat das strikt getrennt.«
Das passte zu ihm. Zu Männern im Allgemeinen. Ich war zwar nicht gefragt worden, aber ich sagte zu Ratz: »Herr Kommissar, meine Schwester ist ohne ihren Mann am Ende – was glauben sie, warum sie mit dem Auto so gerast ist?«
Christine Brückner nickte. »Frau Ziegler ist in letzter Zeit kaum mehr aus dem Haus gegangen, weil sie häufig krank war, Herr Ziegler hat sich um fast alles gekümmert, nebenbei im Übrigen ich. Sie hat sich immer voll und ganz auf ihn verlassen, er hat fast alles geregelt. Sie können nicht im Ernst annehmen, dass sie ihm etwas antun wollte.« Sie schluckte und murmelte: »Sie schaufelt sich doch nicht ihr eigenes Grab.«
Ratz betrachtete uns prüfend. Dann sagte er: »Es deutet ja auch alles auf einen Unfall hin.«
Ich begleitete die beiden Beamten zur Tür. Der Dicke ging ohne ein Wort des Grußes hinaus, während Ratz mir zunickte und die Hand reichte. »Ich werde morgen noch einmal vorbeikommen, wenn die Laborergebnisse vorliegen. Im Moment ist Ihre Schwester nicht ansprechbar, wir haben es eben versucht, der Herr von der Versicherung war so freundlich, uns zu ihr zu führen. Nun ja, sie wirkt … recht verwirrt.«
Ich nickte und war erleichtert, dass die beiden abzogen. Ich ging davon aus, dass ein weiterer Besuch der Polizei sich ohnehin erübrigte. Ratz sah ich zum letzten Mal, davon war ich überzeugt.
Nachdem ich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, machte ich mich auf den Weg zu Annas Schlafzimmer. Sie schlief tief und fest, atmete gleichmäßig und sah friedlich aus. Mein Vater war mittlerweile mit den Kindern ins nahe gelegene Schwimmbad gefahren, man würde auch ihnen im Laufe des Abends noch die Wahrheit sagen müssen. Ich zögerte – sollte ich zu Jens ins Arbeitszimmer zurückkehren oder ins Wohnzimmer zu Matthias' Kollegen und Christine Brückner?
Ich entschloss mich fürs Wohnzimmer.
Oh mein Gott. Johannes will Jens anrufen wegen der Versicherungen. Meinen Jens! Was mache ich nur, wenn er vorbeikommt und sieht, wie es mir heutzutage geht? Ich blicke an mir herab und betrachte den Streifen angetrockneten Müslis auf meinem Oberteil. Die ganze Zeit lassen sie einen nichts selbst machen, und von einem Tag auf den anderen heißt es dann: »Mach mal alleine.« Als ob man das dann von heute auf morgen könnte!
Heute Morgen sagte Johannes zu Sabina, als sie sich mit Klamotten beladen auf den Weg zu ihrem Laden machte: »Heute Mittag kümmere ich mich um diese Versicherungsgeschichten.«
Sabina scheint es nicht so wichtig zu sein. Sie hob die Schultern und sagte: »Lass dir nichts andrehen.« Und mit einem Blick auf mich fügte sie hinzu: »Wart lieber, bis sie schläft. Sonst macht sie wieder Krawall.«
Krawall? Ich bitte euch. Johannes hat mich oft dabei, wenn es um wichtige Entscheidungen geht. Zur Bank zum Beispiel hat er mich auch schon mitgenommen. Oder letztens, da nahm er mich mit zum Sushiessen. Wir liefen Hand in Hand vom Parkhaus aus zu Fuß, es ist nicht weit, nur über die Straße, und schon ist man dort. Er traf sich mit einem, den ich noch nie gesehen habe. Sie gaben sich die Hand, und Johannes drückte ihm eine Tüte in die Finger, mit den Worten: »Dein Fotoalbum, mit den Bildern von unserem Klassentreffen.« Der andere warf einen Blick auf mich und gab mir auch
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