Hirngespenster (German Edition)
Wischt mir die Nase ab und streicht mir über den Kopf. Lässt sich sogar zu einem Kuss auf meine Wange herab. Ich wende entrüstet den Kopf ab, überlege es mir dann jedoch anders. Lege den Kopf schräg.
Macht sie den Verschluss auf?
Sie lacht. »Komm raus«, sagt sie. Direkt freundlich. Geht zu Oles Bücherecke und holt ein Buch für mich raus, zum Angucken. Dieses Bilderbuch habe ich Nils mal gekauft, es weckt Erinnerungen in mir. Dass sie es sich jetzt mit mir zusammen anguckt, beruhigt mich ungemein. Manchmal ist sie wirklich ein Engel.
Ich habe nie behauptet, dass ich ein Engel war. Vielleicht habe ich es mal eine Zeitlang geglaubt, zum Beispiel, als mir Anna immer so übel mitgespielt hat. Und mindestens als ich diese unverfrorene Kontaktanzeige las, hielt ich mich für unfehlbar und treu. Und dann diese bescheuerte Reaktion von Johannes, die mich derartig aufbrachte gegen ihn! Neben dem Stress, den ich mit Anna erleben musste, sollte es mir niemand verdenken, dass ich schließlich den Engel hinter mir ließ und zusah, dass ich überlebte. Ich war unendlich frustriert, konnte nicht fassen, was aus mir geworden war: eine Fast-Hausfrau, schwanger mit dem zweiten Kind, verheiratet mit einem Mann, den ich nahezu seit Kindertagen kannte und der mich nicht mehr attraktiv fand. Ich sehnte mich so sehr nach meinem alten Leben zurück, dass es mir regelrecht die Brust zerriss. Natürlich liebte ich Nils und hätte mein Leben für ihn gegeben. Und ich liebte auch das zweite Kind in meinem Bauch. Aber ich hasste die Situation, in der ich mich befand. Ich fühlte mich ausgeliefert; einem Mann ausgeliefert, der nichts mehr mit mir anfangen konnte. Ich selbst fand mich attraktiv. Ich war eine schlanke Schwangere, eine mit Chucks an den Füßen, Hüftjeans und tailliertem T-Shirt und einem kleinen Haargummi im kinnlangen blonden Haar. Eher der Studentinnentyp, wenn ich so sagen darf. Ich war Redakteurin, mein Gott, keine Hausfrau, die ständig putzte. Und trotzdem – letzten Endes war ich doch nur eine ganz normale Frau, eine Mama geworden.
Ich stritt mich mit Johannes darüber, wer am Wochenende gerade mit Nils »dran« war. Entweder beschäftigte er sich mit ihm, damit ich »Zeit für mich« hatte, so wie er es nannte, oder umgekehrt. Das Ganze war allerdings ein Witz. Wenn er »dran« war, lief das folgendermaßen ab: Er saß auf dem Sofa und las Zeitung, ich packte die Tasche für die beiden: Trinkflasche, Babygläschen, Butterkekse, Lätzchen, Sachen zum Wechseln, Windeln, Creme, dicke Jacke, dünne Jacke … – was nicht eben schnell ging. Dann zog ich Nils an, stellte ihn im Flur ab und rief: »Nils wäre dann so weit, Johannes.« Johannes fiel unter Umständen noch eben ein, dass er schon seit längerem ein wichtiges Schreiben seines Steuerberaters suchen oder mal kurz die Post von vor drei Wochen öffnen musste, und er verschwand erst einmal im Arbeitszimmer. Ich stand mit dem schwitzenden Kind im Flur und wartete auf Herrn Jakobi. Und wenn dieser sich dann bequemte, Nils bei der Hand zu nehmen und das Haus zu verlassen, fing meine Runde durch die Wohnung an: Ich klaubte Klamotten und Spielsachen vom Boden auf, stellte eine Maschine Wäsche an, bereitete das Essen vor, fegte Krümel – und saß gerade mal fünf Minuten mit schmerzendem Rücken auf dem Sofa, wenn die beiden von ihrem Spaziergang zurückkehrten. Ich rührte mich nicht und spielte toter Mann auf meinem Platz auf dem Sofa, bis Johannes strahlend mit Nils im Schlepptau reinkam und sagte: »So. Das war schön. Hast du auch was Schönes gemacht?« Dann ließ er sich aufs Sofa fallen und griff nach meiner Zeitung.
Ich weiß. Ich hätte mich mal locker machen können und nicht den ganzen Mist tun, wenn sie weg waren, sondern mich verdammt noch mal sofort aufs Sofa hocken. Oder ihn mal die Sachen für unterwegs einpacken lassen können. »Das kann ich doch machen, Schatz.« Aber er tat es ja nie! Nie von selbst jedenfalls. Ja, ja. Ich weiß.
Manchmal machten wir einen Alibiausflug als nette kleine Familie. Wir saßen dann am Rand eines Sandkastens und bauten Sandburg oder liefen durch den Wald und suchten gemeinsam nach dem perfekten Stock für Nils. Es hätte Spaß machen können, doch zwischen uns war eine Stille eingekehrt, die mich taub machte. Immerzu dieser dicke Bauch zwischen uns.
Und nicht nur der.
Sabinas Foto ruhte in einer Holzkiste im Keller. Doch egal, was ich auch mit dieser Kiste anstellte, um sie so weit wie möglich nach hinten
Weitere Kostenlose Bücher