Hirngespenster (German Edition)
Gegend ist. »Wo ist deine Gegend?«, fragte ich und hielt die Luft an. Er schwieg für wenige Sekunden und sagte: »Ich erzähl's dir im Park, Silvie. Ich erzähl dir alles, was du wissen willst.«
Das waren Neuigkeiten. Wir schwiegen uns einen Moment an, dann sagte er: »Ich schätze, es ist an der Zeit, mit ein paar Tabus zu brechen. Wenn man bedenkt, dass ich selbst damit angefangen habe, kann ich dir wohl ein paar Fragen zugestehen, was?«
Ich hatte doch alles. Alles, was ich mir nur wünschen konnte. Ich hatte einen Mann, den ich fast seit Kindertagen kannte und der ein herzensguter Mensch war (soweit mir bekannt war, zumindest), zwei gesunde Kinder, eine tolle Wohnung, einen Job, der mir Spaß machte. Keine Geldsorgen. Immer wenn ich mich dabei ertappte, wie ich mich auf das Treffen mit Jens freute, bummerte das schlechte Gewissen in meiner Brust, so dass mir fast schlecht wurde. Allerdings war ich kaum in der Lage, zu unterscheiden, ob es das schlechte Gewissen war oder die Vorfreude auf Jens.
Ich hätte Johannes und mir eine Chance geben müssen, indem ich abwartete. Ich hätte den Alltag in unser Leben zu viert einziehen lassen sollen, aber ich tat es nicht. Ich nahm Fahrt auf, hinaus in die Welt außerhalb meiner Ehe, rein in die Abwechslung – und zwar direkt nach Oles Geburt. Ich kann das nicht Jens zum Vorwurf machen. Er hatte keinen Grund zum Abwarten. Für ihn hatte sich nichts geändert. Ich hatte ein Kind bekommen, ja. Aber das schien ihn nicht davon abzuhalten, sich weiter mit mir treffen zu wollen, wohl wissend, dass an Sex für eine gewisse Zeit nicht zu denken war. Dass Johannes auch nicht gerade auf dem Sprung zu mir zurück war, das raffte ich null. Ich ahnte ja nicht einmal, dass Sabina seit mindestens drei Jahren in Frankfurt lebte.
Sabina
Nachdem Sabina sich auf Tanjas erneutes Drängen hin endlich auf Parship angemeldet hatte, dachte sie tatsächlich etwas seltener an Johannes. Sie konnte zwar kaum davon sprechen, dass sie ihn vergessen hatte. Das – davon war sie überzeugt – würde nie passieren. Trotzdem veränderte sich wieder etwas in der Erinnerung an ihn. So war es immer gewesen in den Phasen, in denen sie sich nicht gesehen hatten: Sein Aussehen verschwamm, er verwandelte sich wieder in den Jungen, in den Austauschschüler, in den sie sich vor Ewigkeiten verliebt hatte. Sie erinnerte sich nicht an die letzten Küsse und Zärtlichkeiten, die sie ausgetauscht hatten, sondern an die ersten, als sie geglaubt hatte, ihr werde der Bauch platzen von den Flugzeugen darin. An seine verliebten Blicke in der Schule und an die anschließenden Nachmittage im Bett, als sie ständig auf die Uhr gesehen hatte in der Angst, ihre Mutter könnte jede Minute vom Einkauf nach Hause kommen. Dienstagnachmittags nach der Schule hatten sie immer sechs Stunden Zeit füreinander gehabt, das war der Tag gewesen, an dem ihre Mutter arbeitete und ihr Bruder lange in der Uni war. Sechs Stunden, die wie nichts verronnen waren, zwischen Küssen, Streicheln und Sex. Der Geruch ihrer Hände danach, an denen sie stundenlang geschnuppert hatte, und die Blicke, die sie sich zu den Mahlzeiten über den Tisch zugeworfen hatten. Er hatte sie auch geliebt, hatte es ihr immer wieder gesagt, ständig. Auch in den Briefen, die sie sich danach über Monate geschickt hatten. Und in den Telefonaten hatte er geweint.
Bis er Silvie kennengelernt hatte. Silvie, die Gitarrenspielerin. Das Mädchen, das ihn tröstete, weil sie einfach da war, ihm zuhörte, mit ihm zusammen Fotos von Sabina ansah und verstand, was er für sie empfand. Die sagte: »In die hätte ich mich auch verliebt, wenn ich ein Junge wäre.«
Sabina hatte sofort gewusst, was passieren würde; sie schrieb ihm in ihren Briefen, was Silvie beabsichtigte, nämlich sie und ihn auseinanderzubringen, doch Johannes hatte es nicht glauben wollen. »Sie ist nicht mein Typ, Sabina«, schrieb er immer wieder. »Sie trägt Camelboots und selbstgestrickte Pullis. Sie ist ein Kumpel, weiter nichts.« Und dann die wundersame Verwandlung: »Stell dir vor, Silvie macht sich schick!« Die Angst, die in ihrer Brust Einzug gehalten hatte und immer größer geworden war, würde sie nie vergessen. Um sich den Schmerz zu ersparen, den Schmerz, wenn er ihr mitteilen würde, er habe sich in die Gitarrenspielerin verliebt, schrieb sie ihm: »Das mit uns hat keine Zukunft, ich bin mit Ben zusammen.« Ausgerechnet mit Ben! Mit diesem Lackaffen, der jede haben konnte, den Johannes
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