Hirngespenster (German Edition)
»Wir melden uns bei Ihnen.«
Er ließ es sich nicht nehmen, uns beiden die Hand zu geben. »Frau Jakobi«, sagte er, und ich dachte, mir verbrüht es die Hand, die er einen Moment zu lange festhielt. »Herr Jakobi«, sagte er mit einem Unterton, der einer Beileidsbekundung gleichkam. Trotzdem überwältigte mich eine Welle der Zärtlichkeit und Sehnsucht; allein sein Geruch war kaum zu ertragen, sosehr verlangte ich nach seiner Umarmung.
Nachdem Jens durch den Ausgang verschwunden war, starrte Johannes mich böse an. Er schüttelte immerzu den Kopf und schälte wortlos Nils' Mandarine fertig. Dann zeigte er mir einen Vogel. »Du hast echt ein Rad ab«, sagte er, gab Nils die Mandarine zurück und winkte dem Barmann. »Aber so richtig.«
Im Nachhinein – und zwar schon am selben Tag – war mein Verhalten für mich selbst nicht mehr nachvollziehbar. Ich hatte mir selbst eine Blöße gegeben wie nie zuvor in meinem Leben. Mich überkamen Hitzewellen der Scham, ich fragte mich, was mich geritten hatte, eine solch hirnlose Aktion durchzuführen. Was hatte ich anderes erreicht, als dass Johannes sich fragen musste, was es mit diesem Herrn Reimer auf sich hatte? Und Jens musste sich fragen, ob ich ihm kein Stück vertraute.
»Postnatales Trauma«, hauchte ich am Abend mit hängenden Schultern, als Johannes nach Hause kam und seine Tasche in die Ecke im Flur pfefferte. Ich wollte das Ganze verharmlosen, ihm zur Versöhnung einen Kuss auf die Wange drücken.
»Ist mir scheißegal«, knurrte er und rempelte mich fast an auf seinem Weg an mir vorbei in die Küche. »Du hast mich vorgeführt wie einen dummen Schuljungen, hast uns beide lächerlich gemacht von vorne bis hinten. Ich frage mich, was sich dieser Herr Reimer denkt. Entweder dass ich voll unterm Pantoffel stehe oder dass du bekloppt bist – eins von beidem!«
Ich hatte Johannes noch nie so wütend erlebt. In mir keimte Trotz auf. »Ich kann nicht mehr tun, als mich entschuldigen!«, rief ich. »Willst du mich dafür ewig strafen!?«
Er strafte mich ewig. Er war stinksauer.
»In diesem Moment war ich kurz davor, Sabina anzurufen, das kannst du mir glauben«, sagt Johannes zu Sven und schüttelt den Kopf in Erinnerung an den Vorfall.
»Du warst eben zu anständig, und das ist auch gut so. Schließlich habt ihr euch ja auch wieder zusammengerauft.«
»Naja«, sagt Johannes und nimmt mir die Mandarinenschale aus der Hand, die gar nicht schlecht schmeckt, »der Ofen war aus.«
Der Ofen war aus, und wir erwähnten Herrn Reimer nie wieder. Wir sprachen nicht mehr über Versicherungen oder Vorsorge, ich besorgte ohne Johannes' erneutes Drängen beim Arzt Kopien unserer Krankenakten, tütete sie unter seinen Augen ein und schickte sie nachträglich ab, was vollkommen überflüssig war – bei nächster Gelegenheit würde ich die Verträge ohnehin kündigen. Wir sprachen darüber, dass unsere Nachbarn sich ein neues Auto gekauft hatten, und wunderten uns, wie sie das wohl finanzierten. Wir staunten über die Leiterin unserer Krabbelstube, die mit dreiundvierzig noch einmal schwanger geworden war. »Ganz schön leichtsinnig«, fand Johannes. Wir beschäftigten uns mit Themen, die nichts mit uns zu tun hatten, teilten die Aufgaben unter uns auf, die das Leben als Eltern mit sich brachte. Ich war übermüdet, weil beide Kinder nachts aufwachten und Hunger hatten. Nils erst wieder seit Oles Geburt, dafür aber vehement. Und wer sollte die Flasche geben? »Die Mama!« Manchmal machte es mich wütend, dass Johannes mir nicht einmal einen Grund gab, sauer auf ihn zu sein, mich zu ärgern, dass er dieses oder jenes nicht tat, dass er sich nicht kümmerte oder soff oder sich nicht wusch. Aber nein, Johannes lieferte keinen Grund zu Beanstandungen, er bot sich immer wieder an, Nils trotz Schreierei die Flasche zu geben, er werde sich schon daran gewöhnen. Ich lehnte ab; das Kind wollte mich, und es sollte mich haben. Unsere Beziehung war ein gleichförmiger Strom an Eintönigkeit. Tagsüber war ich lethargisch, hätte am liebsten nur geschlafen und musste stattdessen funktionieren. An manchem Morgen fragte ich mich, wie ich den Tag überstehen, wie ich ihn ausfüllen sollte; selbst wenn ich in die Redaktion fuhr, ging mir das so. In meinem Kopf tauchten immer wieder Jens' Arme auf, nach deren allumfassender Wärme ich mich sehnte. Johannes' Arme kamen mir dagegen vor wie die eines gerupften Hähnchens. Die Frauen in der Stillgruppe, zu der ich zweimal pro Woche
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