Hirngespenster (German Edition)
pilgerte, um die Eintönigkeit zu durchbrechen, nervten mich ohne Ende an. Die immer gleichen Gespräche über Stillrhythmen und Farbe des Stuhlgangs der Säuglinge brachten mich mehr und mehr in Rage, das Geschwafel in der Krabbelstube über »Grenzen setzen« und »Rituale«, die Kinder brauchten – all das langweilte mich buchstäblich zu Tode. Nichts Neues! Am meisten verabscheute ich die Frauen, die konstant behaupteten, es gäbe auch noch Wichtigeres in ihrem Leben als ihre Kinder, und die nichts anderes taten, als immer wieder nur über sie zu sprechen. Trotzdem ging ich hin, wenn ich auch schwieg und mich als Fremdkörper in diesem Müttersystem fühlte. Ich meinte, ich sei es meinem Kind schuldig, mit anderen Kindern zusammenzukommen. Und abgesehen davon: Mit was hätte ich mir sonst die Zeit vertreiben sollen? Das einzige vermeintlich Aufregende der letzten Tage war mein Zutun zu Annas Internetanschluss gewesen. Seither hatte ich nichts mehr von ihr gehört.
Dann kam der Tag, an dem ich einen dicken Umschlag von Jens' Versicherung erhielt mit der offiziellen Versicherungspolice, den Versicherungsbedingungen für unsere Akten und einem Begleitbrief, in dem sich der Sachbearbeiter Herr Reimer für die nachgereichten Unterlagen bedankte. Ich nahm das Papier und beugte meinen Kopf, um daran zu schnuppern – doch leider enthielten sie nicht einmal einen Hauch seines Parfüms. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und griff zum Telefon.
»Mensch, Silvie«, sagte er und schluckte hörbar, als ich ihn anrief. »Mensch, Silvie.«
Ich hatte auch einen Kloß im Hals. »Wir können ganz neu anfangen«, flüsterte ich in den Hörer. Ich hatte mir das gut überlegt. Reiflich.
Seine Stimme zitterte. »Gerade fing ich an, mich damit abzufinden, dass du dich nie wieder meldest.«
»Ich verlass dich nicht mehr«, versprach ich.
Was wusste denn ich?
Zum ersten Mal fuhr ich zu ihm nach Hause in den Dornbusch, einen Stadtteil, den ich bisher lediglich durch den Sitz des Hessischen Rundfunks kannte. Ich kam durch eine Straße mit alten Villen; sie hätten einen neuen Anstrich nötig gehabt; Ole lag friedlich schlafend in seinem Kindersitz auf der Beifahrerseite. Den Wagen parkte ich vor einem großen Haus, das von einer alten Kastanie flankiert war. Sie verlor in großen Mengen ihre Blätter, so dass der Boden mit einer dichten gelben Schicht bedeckt war. Andächtig stieg ich aus und betrachtete das ockerfarben gestrichene Gebäude mit den braunen verwitterten Fensterläden. Hier sollte Jens wohnen? Was wollte er in so einem großen Haus – ohne Frau und ohne Kinder? Während ich Ole auslud, sah ich aus dem Augenwinkel, dass jemand die schwere Haustür öffnete und mir entgegensah. Jens lehnte sich gegen den Türrahmen, hielt mit einer Hand die Eichentür offen und ließ mich nicht aus den Augen. Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich mit Oles Babyschale die Stufen zur Eingangstür nahm; ich fixierte seine blauen Augen, wollte seinen Blick nie mehr loslassen. Wieso hatte ich nie wahrhaben wollen, wie viel ich für ihn empfand?
Auf der Schwelle setzte ich Ole ab, und Jens umschlang mich mit seinen Armen, presste mich an sich, vergrub seine Nasenspitze in meinem Haar. Mein Gesicht verschwand in seiner Halsbeuge, ich nahm seinen Geruch in mich auf, bis ich nach Luft japste. Wie betrunken war ich. Wir küssten uns lange, zuerst zaghaft, wie Schmetterlinge, die in ihrem hüpfenden Flug kaum die Blüten berühren, schließlich fest und fordernd. Ich wollte nie mehr damit aufhören. Schließlich griffen wir gemeinsam nach Oles Babyschale, stolperten eine steile Holztreppe nach oben bis zu seiner Mansardenwohnung. Er führte mich durch einen Flur mit dunklen Bodendielen und graugestrichenen Wänden in ein Wohnzimmer, von dem ein kleiner Balkon abging. Von dort aus hätte man fast in die Kastanie klettern können.
»Mein Gott«, hauchte ich und atmete die feucht triefende Herbstluft ein, »du hast es schön hier.«
Ich frage mich, wie Anna wohl die Zeit bis März verbracht hat. Ich meine, natürlich weiß ich, wie sie sie verbracht hat, aber ich meine innerlich. Woher nahm sie die Geduld, bis zum Frühjahr zu warten? Dass sie mindestens bis März warten musste, war klar. Sie kann doch nicht monatelang aus dem Fenster geschaut und Blüten gezählt haben, um sich die Lage zu merken. Oder doch? Hm. Vermutlich schon. Was mich wieder daran erinnert, dass es manchmal viel Geduld braucht, wenn man seine Ziele verwirklichen
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