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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Keller
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er bekam einen hochroten Kopf, dessen Anblick sie unwillkürlich tiefer in den Sessel sinken ließ.
    Matthias betrachtete sie missbilligend von oben bis unten. Anna wandte sich ab und schaute aus dem Fenster.
    »Guck mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«, schrie er plötzlich, packte sie wutentbrannt und schüttelte sie so stark, bis sie nur noch Sternchen sah. Anna schrie so laut sie konnte, hatte sich nicht unter Kontrolle, fürchtete, er wolle sie totschlagen. Voller Angst dachte sie an das Gelesene vom Nachmittag. Sie hatte einen neuen Brief der Frankfurter Volksbank gefunden, diesmal war von Zwangsvollstreckung ihres Hauses die Rede gewesen – eine Information, die sie mit zwei Tabletten hatte ausblenden können und die er ihr nun in den Kopf zurückdonnerte mit seinem Schlag. Die Mädchen wurden wach, Emma und Clara kamen ins Wohnzimmer gelaufen und weinten, und auch Luna lugte um die Ecke. Anna sah nur ihren Schatten.

    Christine Brückner saß in der Küche mit ihrem Mann, der die Fäuste ballte. »Dem Arsch schlag ich das Hirn ein«, drohte er, als es klirrte und Annas Teetasse zu Bruch ging. Entschlossen machte er sich auf den Weg zur Tür. »Jetzt reicht's!«
    Doch Christine Brückner hielt ihren Mann zurück. »Die nehmen ihr die Kinder weg, wenn wir die Polizei rufen, das hält keine Mutter aus! Überleg' doch mal, sie hat schon so viel durchgemacht. Gerade erst hatte ich das Gefühl, dass sie kein solches Nervenbündel mehr ist.«
    »Du hast doch gar nichts mit ihr zu tun, siehst sie immer nur von hinter dem Vorhang!«
    »Glaub mir, mein Lieber«, presste Christine Brückner böse hervor, »dabei kriegt man mehr mit, als du denkst. Mehr, als würde ich mit ihr reden. Dabei kriegt sie nämlich gar nicht erst den Mund auf.«
    Thomas Brückner betrachtete seine Frau zweifelnd. Christine war kein Klatschweib; viel eher nahm er ihr ab, dass sie sich ernsthaft sorgte, seit Wochen schon. Besonders wegen der ältesten Tochter, die ununterbrochen summte. Man sollte die Sache im Auge behalten, da hatte seine Frau recht. Langsam bewegte er sich zurück in die Küche und horchte. Endlich war alles ruhig.

    Die lila- und rosafarbenen Blüten auf Annas Rasen verdorrten, als der November Einzug hielt und der erste Frost kam. Die Blätter fielen endgültig von den Bäumen herunter, bedeckten die verwelkten Blüten – doch sich ihre verborgene Lage zu merken war ein Kinderspiel für sie. Wenn sie den Rastern folgte, nach denen sie den Rasen gedanklich eingeteilt hatte, konnte sie die Lage auf zehn Zentimeter genau bestimmen. Täglich wiederholte sie ihre Methode, zählte die Raster, zählte, wie viele Blätter zu Boden fielen. Auf diese Weise kam sie zur Ruhe, wenn sie im Hausanzug am Fenster saß und in die graue Welt hinausblickte.
    Der Gerichtstermin, von dem in dem Brief des Rechtsanwalts die Rede gewesen war, war verstrichen, ohne dass etwas Bemerkenswertes geschehen war. Matthias war nicht verhaftet worden, es war ein ganz normaler Tag gewesen. Außer für sie natürlich, sie hatte an nichts anderes denken können. Vielleicht hatte sie sich im Termin geirrt? Dabei hatte sie die ganze Zeit mit großer Bange die Tage gezählt, bis es so weit war. Manches Mal hatte sie den Kalender verkehrt herum an den Nagel an der Küchenwand gehängt, so dass sie nicht dauernd dieses Datum vor Augen hatte. Aber die trotz der Pillen wieder lauter gewordenen Stimmen in ihrem Kopf vergaßen ohnehin nichts, sie merkten sich alles, ob der Kalender da war oder nicht. Manchmal warf sie ein Auge auf den Stapel Briefe, die Matthias seit dem letzten Zwischenfall in einer Schublade im Arbeitszimmer sammelte, und von der er zu glauben schien, sie sähe nicht hinein. Nur wenig Post lag auf dem Schreibtisch, belangloses Zeug, größtenteils Werbung. Solange die wichtigen Briefe dort in der Schublade ruhten, bereiteten sie ihr auch weit weniger Angst als zu der Zeit, da sie noch auf dem Schreibtisch gelegen hatten. Heute jedoch hatte sie nicht widerstehen können, sich die Briefe in der Schublade vorzunehmen, und dabei war ihr alles durcheinandergeraten. Auf der Suche nach dem Emblem der Rechtsanwaltskanzlei oder dem Stempel der Frankfurter Volksbank hatte sie in der Schublade gewühlt, hatte anschließend in weiteren Schubladen und Ablagekästchen nachgesehen und plötzlich den Überblick verloren. Auf einmal hatte sie einen Stapel Briefe in Händen gehalten, von dem sie sich nicht erklären konnte, wie er da hineingeraten war. Mit

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