Hirngespenster (German Edition)
beängstigend dünn war, fast nichts zu sich nahm – immerzu schob sie die Speisen auf ihrem Teller hin und her und verkündete nach kürzester Zeit, sie sei satt, habe Bauchweh. Vielleicht fand sie ein Kochrezept, an dem Luna Geschmack fand? Sie suchte nach »Gemüse der Saison« und starrte wie gebannt auf die Seite, die sich gerade vor ihren Augen geöffnet hatte. Auf ihren Unterarmen kribbelte es angenehm – ein Gefühl, das sie lange nicht gehabt hatte –, und sie spürte dem so lange nach, bis es wieder nachließ.
Endlich. Endlich hatte sie gefunden, wonach sie gesucht hatte.
Es gab doch eine todsichere Methode. Sie musste nur bis zum Frühjahr warten.
Wir sitzen am Tisch, Johannes, Sven und ich. Ich versuche, eine Mandarine zu schälen, und Sven wirft mir hin und wieder einen belustigten Blick zu, bis er mir schließlich hilft und mir ein Stück in die Hand drückt. Johannes runzelt die Stirn und sagt: »Sie muss das eigentlich langsam allein können. Wir dürfen ihr nicht alles vor den Arsch tragen, besonders Sabina macht das verkehrt. Verwöhnt sie nach Strich und Faden. Und die Jungs, die hat sie um den Finger gewickelt. Sie ruft, und die beiden springen!«
»Man kann ihr nichts abschlagen«, lächelt Sven und gibt mir noch ein Stück Mandarine, das ich dankbar annehme. »Weißt du noch, damals, als Silvie in diesem Hotel aufgetaucht ist und dich zur Rede gestellt hat vor diesem Versicherungsvertreter?«, fragt er plötzlich.
Johannes grinst. »Wie kommst du denn jetzt da drauf?«
Sven kichert. »Du sagtest, Nils hätte eine halb geschälte Mandarine in der Hand gehabt und dir wortlos in die Hand gedrückt, während Silvie loslegte, so nach dem Motto ›Schäl' mal, Papa‹?«
Johannes kichert auch. »Wie könnte ich das vergessen«, sagt er und krault mich unterm Kinn. »Der Typ ist so was von blass geworden, ich glaube, der hatte richtig Angst vor ihr!«
»Ach ja«, sagt Sven und lächelt mich an. »Sie war schon ’'e heiße Nummer. Da fällt mir ein: Ist dieser Typ nicht auch auf der Trauerfeier aufgetaucht?«
»Hmhm. Ich glaube, er kannte Anna.«
Oh, ja. Und ob er sie kannte. Aber von welcher Trauerfeier sprechen sie? Ich kann mich an keine erinnern. Ist Anna doch tot? Das kann nicht sein.
Silvie
Als ich in der Tür zu Fleming's Bar stand und Johannes bei Jens sitzen sah, hatte ich keine Ahnung, wie weit die beiden in ihrem Gespräch fortgeschritten waren und um was es dabei überhaupt ging. Aber gerade so, wie ich noch meinen Verstand beisammen hatte, vermutete ich richtig: Es ging um die Versicherung und nicht um unsere Affäre. Jens würde mir das nicht antun. Die Angst in meinem Bauch, es könne dennoch anders sein, war dessen ungeachtet so groß, dass sie sich zu einem Klumpen formte, der mir die Luft nahm. Am liebsten hätte ich mich zu Boden fallen lassen. Stattdessen lief ich weiter, stieß mit Oles Kinderwagen gegen einen Barhocker, um mir meinen Weg zu bahnen, und begegnete Johannes' überraschtem Blick. Johannes' Blick folgend, wandte Jens sich zu mir um.
»Sag mal«, stieß ich atemlos hervor und meinte Johannes, »das ist ja wohl das Allerletzte, dass du dich hier einfach so mit Herrn Reimer verabredest. Bei dieser Sache hab ich ja wohl auch ein Wörtchen mitzureden!« Eine geschickt gewählte Formulierung, fand ich. Unverfänglich und für jeden weiteren Gesprächsverlauf offen. Jens hatte den Mund offen und schielte zu Johannes, dem Nils eben seine Mandarine in die Hand drückte.
»Du hast dich nicht drum gekümmert, und da hab ich mich eben selbst …«, begann er, doch ich fuhr ihm über den Mund: »Wenn du dich mit Herrn Reimer unterhältst, dann will ich dabei sein, so war es ausgemacht. Immerhin kam der Kontakt über mich!«
»Ich wollte mich doch nur informieren …«
»Ist mir egal!«, zischte ich, und mein mir wohlvertrauter Barkeeper hielt den Kopf gesenkt und grinste wie ein Breitmaulfrosch. Dann sprach ich leiser weiter: »Ich fühle mich von dir hintergangen, Johannes! Gerade vorhin wollte ich telefonisch nach dem Verbleib der Versicherungsscheine fragen, da bekomme ich die Auskunft, Herr Reimer säße mit Herrn Jakobi zusammen.«
Jens kam erst nach dieser Lüge zu sich. »Die Unterlagen hab ich so weit hier«, sagte er und öffnete eilig seine Aktentasche, während er sich von seinem Stuhl erhob. »Ich gehe dann mal«, sagte er noch und drückte Johannes einen Umschlag in die Hand.
»Wäre vielleicht besser so!«, empfahl ich und fügte noch hinzu:
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