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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Keller
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zitternden Fingern hatte sie die Briefe wieder verteilt, damit es nicht auffallen sollte; wahllos hatte sie die Briefe in die verschiedenen Kästchen und Schubladen zurückgesteckt – eins – zwei – drei –, wie die Mitarbeiterin einer Postabteilung, die routiniert Briefe einsortierte. Am Ende hatte kein einziger Umschlag mehr auf dem Schreibtisch gelegen.
    Kurz nach dem Abendbrot war Matthias ins Arbeitszimmer verschwunden, und nun stand er vor ihr, wie beim letzten Mal. Dass er innerlich kochte, war nicht zu übersehen: Die tiefliegenden Augen quollen fast aus dem Schädel hervor. »Hat Madame zufällig wieder in meinen Sachen rumgeschnüffelt?«, zischte er böse.
    Anna schluckte. »Ich spioniere dir nicht hinterher«, flüsterte sie. »Ab und zu sorge ich für Ordnung. Das machen Hausfrauen so.«
    Er lachte gehässig, nahm sie unsanft bei der Hand und führte sie in die Küche. Dort angekommen, öffnete er zu ihrem Erstaunen den großen Apothekerauszug, auf den sie beim Einzug so stolz gewesen war, und deutete hinein. Als sei er tatsächlich an ihrer Antwort interessiert, fragte er: »Meinst du so was mit ›für Ordnung sorgen‹?«
    Sie betrachtete ihn unsicher. Zu große Furcht hatte sie vor seinen heftigen Reaktionen, die über sie hereinbrachen wie ein unangekündigtes Gewitter – man wusste nie, ob die dunklen Wolken vorbeizogen und lediglich ein bisschen Wind verursachten oder ob sie den Sturm brachten. Stirnrunzelnd folgte ihr Blick seinem Finger und suchte nach einer Antwort, die ihn zufriedenstellen konnte. »Nein«, antwortete sie schließlich vage, und er hörte ihr an, dass dies eher eine Frage war denn eine Aussage.
    »Neeiinn«, äffte er sie nach. »Nein, Anna. Das ist keine Ordnung. Das ist bekloppt!« Mit spitzen Fingern zog er eine der hauchdünnen Papierservietten hervor, die sie in tagelanger Arbeit mühevoll hergestellt hatte. Was hatte er daran auszusetzen? Aus einer einzigen Papierserviette ließen sich ganze acht Stücke anfertigen. Es war ganz einfach: Man faltete eine Serviette auseinander, trennte dann mit einer Schere die vier kleinen Quadrate am Falz voneinander ab. Wenn man nun von jedem kleinen Viereck die zweite Papierlage trennte, dann kam man auf acht Teile. Aus einer einzigen Serviette! Schließlich hatte sie aus den zerschnittenen Teilen Stapel angefertigt, ein guter Vorrat war zusammengekommen. Wenn einmal Gäste kamen, konnte man sie gut verwenden. Worüber regte er sich nun genau auf? Dass er sich aufregte, war nicht zu übersehen. Die dunklen Wolken an Matthias' Himmel zogen auf.
    »Ich wollte nur Geld sparen«, flüsterte sie, noch immer unentschlossen, was die richtige Strategie war. Beunruhigt folgte ihr Blick weiter Matthias' Fingern, die begannen, die hauchdünnen Papierlagen auseinanderzuzerren und in Unordnung zu bringen. Sein Blick verließ dabei nicht ihre Augen.
    Wenn ich ihn jetzt frage, was es mit dem Gerichtstermin auf sich hat, dann lässt er vielleicht meine Servietten in Ruhe, dachte sie plötzlich und verspürte eine Welle der Erleichterung. »Du Matthias«, sagte sie und griff nach seinem Arm, was er überrascht zur Kenntnis nahm. »Bist du eigentlich vorgestern bei Gericht erschienen, so wie es in dem Brief von diesem Rechtsanwalt stand?«
    Nachdem sie ihre Frage gestellt hatte, verschlug es Matthias für einen Moment die Sprache. Sie meinte sogar, so etwas wie Unsicherheit in seinem Blick lesen zu können. Lange dauerte der Moment jedoch nicht an, er erlangte schnell die Fassung zurück. Ließ von den Servietten ab, was Anna mit Erleichterung zur Kenntnis nahm, und sie begann unauffällig, mit einer Hand den schweren Apothekerschrank zuzuschieben.
    Der Schmerz, der kurz darauf in ihren Fingern explodierte, war mit nichts zu vergleichen, was sie jemals zuvor gespürt hatte. Er zog ihr den Boden unter den Füßen weg, in ihren Ohren brach ein Getöse los wie einhundert Düsenjets, und das Feuer in ihren Fingern war so unerträglich, dass sie auf der Stelle sterben wollte. Einfach nur sterben.

    »Ich hab nicht gesehen, dass sie die Finger noch im Schrank hatte!«, erklärte Matthias dem diensthabenden Arzt in der Unfallklinik und tätschelte dabei immer wieder Annas Wange. Sie jedoch blickte unverwandt auf das Röntgenbild, auf dem zwei abgeknickte Finger zu sehen waren. Von außen konnte man nichts erkennen, die Haut an ihren Fingern war fast unversehrt. Lediglich ein roter Streifen zierte die Bruchstelle an zwei Fingern. Der Bruch war fast glatt,

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