Hirngespenster (German Edition)
die oberen Fingerglieder hatten grotesk nach oben gezeigt, so wie es eigentlich gar nicht möglich war. Den Gips würde sie eine Weile behalten müssen.
»Die Kopfverletzung hat sie sich bei ihrem Sturz zugezogen, als sie kurz die Besinnung verlor. Ich konnte sie nicht halten«, parlierte Matthias in weinerlichem Tonfall weiter. Wieder wischte er sich über die Augen. »Es tut mir so entsetzlich leid«, beteuerte er, und Anna nickte. Blendete die Schreie aus, die wieder die Mädchen geweckt hatten, und das heftige Klingeln von Thomas und Christine Brückner, das Matthias mit lautem Donnergrollen pariert hatte. Worte wie »verrückt geworden« und »Anstalt« hallten noch in ihren Ohren, Worte, die er gebrüllt hatte, und: »Kümmert euch um euren eigenen Scheiß!« Es spielte alles keine Rolle. Bis es Frühjahr war und er endlich in den Wald ging, wie jedes Jahr, würden die Finger ihr wieder gehorchen. Die Servietten waren in Ordnung geblieben. Das war die Hauptsache.
Wir fahren manchmal zu einem Friedhof, Johannes, Sabina, die Jungs und ich. Sie schieben mich zu einem der neueren Gräber ganz hinten – zum Laufen ist der Weg für mich zu weit –, und gemeinsam starren wir darauf. Ich habe den Verdacht, dass »Oma« hier Hand angelegt hat, es ist alles sehr akkurat: Kleine Buchsbäumchen umranden winzige Zierrosen. Eine schnörkelige Grabinschrift, die ich natürlich nicht entziffern kann. Es ist komisch, an diesem Grab zu stehen. Unvorstellbar, wer dort begraben sein soll. Wie ein Mahnmal aus dem Zweiten Weltkrieg, damit konnte ich auch nie etwas anfangen. Nils stellt frische Blumen in eine Vase, dann umarmt er Johannes, Ole wetzt zwischen den Gräbern hin und her, und nach ein paar Minuten nickt Johannes Sabina zu, und wir gehen wieder. Heute überrascht mich Nils, er kommt plötzlich zu mir, schiebt mich näher ran: »Hier ist meine Mama«, sagt er stolz. Ich bin auch stolz und strahle ihn an. Sabina beugt sich zu uns hinunter, umarmt uns beide und flüstert: »Ja, deine Mama.«
Ich nicke und lache. Ja, das bin ich!
Sabina
Der Anblick, wie Olga den Kaffeesatz weggekippt hatte, als handele es sich dabei um eine giftige Substanz, hing Sabina lange nach. Inzwischen hatte Olga jedoch kein weiteres Wort darüber verloren. Sie begegneten sich nach wie vor im Hausflur, Olga war auch wie immer gern zu einem kurzen Schwätzchen bereit, doch sie stellte für ihre Verhältnisse äußerst wenige Fragen nach Sabinas Liebesleben. Gar keine, wenn sie es recht überlegte. Nicht, dass die Sache mit Alex so weit fortgeschritten gewesen wäre, um von Liebesleben sprechen zu können, doch ein bisschen was tat sich natürlich schon. Für Tanjas Begriffe, die sich von der Kaffeesatzgeschichte nicht im Geringsten hatte beeindrucken lassen, allerdings viel zu wenig. »Mir geht das alles viel zu langsam!«, stöhnte sie bei einem ihrer Treffen in Luigis Eissalon und tippte sich gegen die Stirn. »Ihr trefft euch dauernd und quatscht stundenlang – und dann passiert nix! Ach«, stöhnte sie, »du bist viel zu brav!«
»Meinetwegen, bin ich eben brav. So ist halt mein Tempo. Ich bin ein geduldiger Mensch.« Was natürlich nicht stimmte, sie war absolut kein geduldiger Mensch. Nur, Alex gab ihr eben allzu deutlich zu verstehen, dass er Interesse an ihr hatte, großes Interesse sogar. Somit konnte sie sich doch Zeit lassen. Ob es wirklich daran lag oder an Olgas Warnung oder an der Tatsache, dass sie nach wie vor an Johannes dachte – sie wusste es nicht zu sagen. Sie mochte Alex, er sah gut aus und war super nett, ein Traumtyp, keine Frage. Sie freute sich auf ihn, wenn sie sich trafen, sie dachte auch häufig an ihn, und sie hatten sich immer etwas zu erzählen, die Gespräche blieben im Fluss – aber ein kleines Stimmchen in ihrem Hinterkopf legte ihr beständig Steine in den Weg: »Ich will nur Johannes«, flüsterte es stets.
»Ich glaube, ich bin von Johannes besessen«, gestand sie Tanja.
»Das glaube ich auch«, nickte Tanja streng. »Nur, es wird dir nichts nützen. Im Gegenteil. Das Leben geht an dir vorbei, und zwar nicht nur das momentane, sondern dein ganzes. Es kann dir passieren, dass du plötzlich vierzig bist und keine Kinder hast. Möchtest du das alles einer unerfüllten Liebe opfern?«
»Nein«, antwortete Sabina und senkte den Kopf. »Natürlich nicht.«
»Ach? Dann greif zum Telefon, verabrede dich mit Johannes und verschaff dir Gewissheit, wie er gefühlsmäßig zu dir steht. Okay, letztes Mal ist es
Weitere Kostenlose Bücher