Hirngespenster (German Edition)
zeige auf meine Kommode – das ist das Neueste, was ich mir angeeignet habe –, dort steht mein Becher.
»Ach so«, sagt sie, »du hast also Durst! Sag doch was. Ich hatte schon Angst, dass du mir wieder das Bett vollkotzt.«
Na vielen Dank auch. Das Wasser tut so gut, es rinnt meine trockene Kehle hinab und verschafft mir Erleichterung. Als ich genug getrunken habe, will sie mir den Becher wieder abnehmen, aber ich weiß genau, was dann passiert: Es wird nicht lange dauern, und mir wird wieder der Mund austrocknen, und ich werde wieder rufen müssen. Also soll sie den Becher doch gleich da lassen! Ich versuche, das Ding festzuhalten, doch sie sieht es nicht ein, klappt mir die Finger auseinander. Sagt: »Der läuft doch aus«, stellt ihn zurück auf die Kommode und macht die Tür wieder hinter sich zu. Kein Selbstbestimmungsrecht hat man hier. Gar keins. Anna würde bestimmt nicht so mit mir umgehen.
Anna
Es waren die Finger der linken Hand, die er ihr gebrochen hatte, Gott sei Dank. Zwar verrichtete man auch als Rechtshänder erstaunlich viele Tätigkeiten mit der linken, dennoch fühlte Anna sich nicht so eingeschränkt, wie sie vermutet hätte. Wenigstens hatte sie nun einen guten Grund, nicht zu duschen, und Matthias verlor kein Wort darüber. Wenn sie sich nicht irrte, wirkte er sogar ein wenig reumütig – nicht, dass er sich bei ihr entschuldigt hätte, darauf würde sie lange warten können. Weiterhin hielt er an seiner Version der Geschichte fest, auch ihr gegenüber: Es war ein Unfall gewesen. Der Schlag, mit dem sein Ellbogen ihren Kopf getroffen hatte, als sie zu Boden gegangen war, vermutlich auch. Die Aufregung.
All dies erschien jedoch nebensächlich im Hinblick auf die Briefe, die sie weiterhin rund um die Uhr im Kopf hatte. Sie brauchte Gewissheit, was es damit auf sich hatte, und gleichzeitig brachte die Angst vor dem Inhalt der Schreiben sie täglich an den Rand eines inneren Abgrunds.
Matthias hatte inzwischen den Briefkastenschlüssel an sich genommen, so dass sie keine Möglichkeit hatte, an die Post zu gelangen – doch sie war nicht ganz so dumm, wie er dachte. Es gab auch andere Wege, Post aus einem Briefkasten zu holen. Jeden Morgen fischte sie mit Hilfe eines zurechtgebogenen Kleiderbügels Briefe aus dem Briefkasten auf dem Vorplatz, warf einen Blick auf die Umschläge und wägte ab, ob sie das Risiko eingehen sollte, den ein oder anderen zu öffnen. Sie suchte lediglich nach zwei bestimmten Aufdrucken, dem der Frankfurter Volksbank und dem dieser Rechtsanwaltskanzlei, doch tagelang kam nichts dergleichen zum Vorschein.
Nach über einer Woche der Übung war sie endlich erfolgreich – sie fischte sich einen Brief heraus, dessen Vorderseite ein Emblem des Landgerichts Frankfurt zierte. Ihre Finger zitterten so stark, dass ihr alle Briefe aus der Hand glitten und auf den schmutzigen Boden der Einfahrt fielen – fast hinein in eine kleine Pfütze. Als sie sich erschrocken danach bückte, um sie aufzuheben, öffnete sich die Haustür hinter ihr, und Christine Brückner kam zu ihr herübergelaufen.
»Komm, ich helfe dir«, sagte sie und half ihr beim Einsammeln.
Anna presste die Lippen aufeinander und stand mit ihrem Gipsverband daneben wie ein hilfloses Kind. »Danke«, hauchte sie schließlich, als die Nachbarin ihr die Briefe in die unverletzte Hand drückte. Schnell warf Anna wieder jeden einzelnen Brief zurück in den Kasten, wie jeden Tag.
»Wie geht es deinen Fingern?«, erkundigte sich Christine Brückner und deutete auf den Gipsverband.
»Halb so schlimm«, sagte Anna, den Blick stur auf den Boden gerichtet.
»Was hat er denn damit angestellt?«, flüsterte Christine Brückner und sah Anna eindringlich an, hoffte, sie werde ihren Blick erwidern und mit der Sprache herausrücken. »Anna«, bat sie noch einmal und beugte sich leicht nach unten, wie bei einem Kind, von dem man möchte, dass es einem in die Augen schaut. »Anna, sag was. Brauchst du Hilfe? Gibt es Probleme? Egal was, Thomas und ich, wir helfen dir!«
Als Anna noch immer schwieg, wagte sie einen letzten Versuch. »Hat er dir gedroht? Sollen Thomas und ich von uns aus die Polizei verständigen – dann kann er das nicht dir in die Schuhe schieben.« Christine Brückner flüsterte nun: »Du brauchst nur zu nicken!«
Anna hätte ihr am liebsten einen Vogel gezeigt. Die Polizei! Die würden sie wegsperren, so wie Matthias gesagt hatte. Das wusste man doch, dass die Bösen immer siegten. Die an der Macht, die
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