Hirngespenster (German Edition)
kamen davon, bluten mussten immer die Schwachen. Gegen die Bösen half nur Gift und Galle. »Ich wollte nur an die Post«, antwortete sie, ohne den Blick zu heben, »kein Gespräch.«
Christine Brückner war engagiert, aber nicht überengagiert. Nachdem Anna ihr vor dem Briefkasten diese Abfuhr erteilt hatte, dachte sie: Wer nicht will, der hat schon. Beziehungsweise hat sie nicht mehr alle, was in Annas Fall auf dasselbe hinauslief.
»Vielleicht ist er gut im Bett«, scherzte ihr Mann am Abend, so wie Männer immer zu scherzen in der Lage sind, selbst wenn alles ausweglos erscheint.
»Ach«, sagte sie und stützte ihre Ellbogen auf dem Abendbrottisch auf. »Nach was sucht sie nur? Und warum hat sie keinen Schlüssel mehr zum Briefkasten? Es ist paradox: Stundenlang hantiert sie mit dem Kleiderbügel, bricht sich einen ab mit ihrem Gipsarm – dabei könnte sie doch einfach auf den Briefträger warten.« Nachdenklich betrachtete sie ihren Mann. »Heute dachte ich erst, sie hätte gefunden, worauf sie gewartet hat. Aber dann hat sie alles wieder in den Kasten geschmissen. Das ist doch unlogisch!«
»Sie wird ihre Gründe haben. Ist doch egal, sie hat dir gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen, und das machen wir auch. Solange er nicht an die Kinder geht …«
»Sieht nicht danach aus.« Als Luna vor ein paar Tagen bei ihnen zum Spielen gewesen war, hatte sie sich Lunas Körper etwas genauer angesehen. Sie hatte den Kindern ihre Muttermale auf dem Rücken gezeigt und dann gesagt: »Zeigt mal, ob ihr auch welche habt!« Und Luna war stolz gewesen: Auf ihrem Rücken und Bauch und an den Armen hatten sie insgesamt vierzehn Stück entdeckt. Keine blauen Flecken oder sonstige Wunden. Das beruhigte natürlich.
Was konnte das Landgericht von ihm wollen, das fragte sich Anna bis zum Abend, als Matthias endlich nach Hause kam, die Post aus dem Briefkasten holte und sofort in seinem Arbeitszimmer verschwand, noch bevor er überhaupt sie oder die Kinder begrüßte. Eines war klar, dachte Anna: Sie musste an den Brief kommen, bevor er ihn mit indie Arbeit nehmen konnte. Zu spät fiel ihr ein, dass sie den Brief hätte gleich nehmen können, statt ihn mit den anderen zurück in den Kasten zu werfen. Allein die Tatsache, dass Christine Brückner aufgetaucht war, hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht! Anna war so aufgeregt und aufgebracht über ihre eigene Dummheit, dass sie nervös vor dem Arbeitszimmer auf und ab lief, so als könne sie mit Röntgenblick durch die geschlossene Tür und auf die Umschläge schielen. Binnen weniger Minuten riss Matthias die Tür auf. »Kannst du mir sagen, was du hier treibst?«, fragte er.
»Das Essen ist fertig«, entgegnete sie und dankte Gott, dass es stimmte. Sie musste lediglich die Nudeln auf den Tisch bringen.
»Dann sag doch was«, entgegnete er kopfschüttelnd und folgte ihr ins Esszimmer.
Dass sie unter Einschlafschwierigkeiten litt, kam ihr an diesem Abend zugute. Bevor sie es wagte, aus dem gemeinsamen Bett wieder aufzustehen, war es weit nach Mitternacht. Matthias atmete schon eine ganze Weile ruhig und gleichmäßig neben ihr, gelegentlich war ein leises Schnarchen zu vernehmen. Vorsichtig stützte sie sich auf den Ellbogen und schwang die Beine aus dem Bett. Wieder warf sie einen prüfenden Blick auf ihn, doch er rührte sich nicht. Den Weg bis zum Arbeitszimmer nach oben nahm sie barfüßig, ihre Fußsohlen verursachten ein leises Tapptapptapp auf der Marmortreppe, bis sie schließlich die Türklinke zum Arbeitszimmer niederdrückte und lautlos öffnete. Das hatte ihr beim Einzug besonders gut gefallen, dass die Zimmertüren so leicht ins Schloss glitten, fast wie automatische Türen, nicht wie in ihrem Elternhaus, wo alles geknarrt hatte, besonders ihre eigene Zimmertür. Mit der Schulter hatte sie sich immer dagegenlehnen müssen, damit sie auch wirklich geschlossen blieb und der Schließmechanismus griff. »Das sind Qualitätstüren!«, hatte Matthias mit einer ausladenden Handbewegung in der Halle gesagt und sie freudig an sich gezogen bei der Besichtigung.
Als Anna nun das Licht einschaltete, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Sie würde einige Zeit benötigen, bis sie sein Versteck fand, das war klar. Zwar hatte sie bisher noch alles entdeckt, aber Matthias war nicht dumm – dass sie sich für bestimmte Briefe interessierte, sollte ihm mittlerweile klar sein. Zunächst nahm sie sich die Schublade vor, in die er immer alles stopfte. Zwar konnte er davon ausgehen,
Weitere Kostenlose Bücher