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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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als sie ihre Plätze gefunden haben.
»Jetzt bin ich das erste Mal in München gewesen und hatte keine Zeit, mir das
Olympiastadion anzusehen. Ihr wisst doch, das mit diesem fliegenden Dach.«
    »Das alte Ding? Wieso ist das wichtig?«, fragt Luba.
    »1972 warst du noch gar nicht auf der Welt, stimmt’s? Ich war zwölf,
und ich trug mein Haar so lang, hier, fast bis zum Hintern.«
    »Und was hattest du mit den olympischen Spielen zu schaffen?«
    »Ich nichts. Aber meine Mutter. Sie hatte sich im Weitsprung für den
Olympia-Kader qualifiziert, ist dann aber nur Vorletzte geworden. Hatte einen
schlechten Tag. Gewonnen hat eine Deutsche, Heide Rosendahl, mit sechs Metern
achtundsiebzig.«
    »Sag mal, wie alt war denn deine Mutter, wenn du damals zwölf
warst?«, fragt Luba.
    »Sie war ungefähr so alt wie du jetzt. Ein bisschen jünger.«
    »Hm, vielleicht ein bisschen zu alt für Olympia.«
    »Sag das nicht. Die Silbermedaille hat eine Bulgarin gewonnen, und
die war auch schon dreißig.«
    »Hast du eigentlich Kinder, Marjana?«
    »Nein, hat sich nicht ergeben.«
    »Und deine Mutter?«
    »Ist seit zwanzig Jahren tot. Sie hat im Olympiakader wahrscheinlich
zu viele oder die falschen Spritzen bekommen. Ihr Bartwuchs war dabei noch das
geringste Problem. Aber angeschaut hätte ich mir das Stadion schon gern. Na ja,
vielleicht auf der Rückfahrt. Das heißt, wenn wir lebendig von unserer
Schatzsuche zurückkommen. Nicht wahr, Wiktor?«
    »Richtig. Und wenn wir lebendig und mit auch nur einem kleinen Teil
des Schatzes zurückkommen, dann kannst du, wenn du Lust hast, das ganze
Olympiastadion für dich allein mieten und dir dazu noch die Rolling Stones für
ein Privatkonzert einfliegen lassen. Wenn sie bis dahin durchhalten.«

Obersalzberg, Mai 1945
    Alexej spürt einen metallischen Geschmack im Mund. Pulsierende,
pochende Schmerzen und irgendetwas, das er sich nicht erklären kann. Etwas wie
seinen Herzschlag. Er hockt neben einem der endlosen Regale. Hundert Meter lang
und mehrere Meter hoch, mit drei Ebenen, auf denen riesige Holzkisten stehen,
die meisten zwei Meter hoch, zwei Meter tief und drei Meter lang. Er ertastet
mit der Zunge seinen hintersten Backenzahn. Er sitzt locker, und mit der Zunge
spürt er, dass das Zahnfleisch an der Stelle wärmer ist. Auf alle Fälle kommt
der metallische Geschmack von dort. Es tut sehr weh, wenn er mit der Zunge
gegen den Zahn drückt, aber er kann nicht aufhören damit. Er muss einfach
dagegendrücken, und dann, von einem Knacken begleitet, löst sich der Zahn und
kullert, von der Zunge geschoben, in seinem Mund herum. Noch einmal spürt er
einen Stich, dann lässt der Schmerz nach. Er geht nicht ganz weg, aber es ist
eine Erleichterung.
    Er spuckt aus. Es ist dunkel, und er kann nicht sehen, dass alles
rot ist, aber er spürt es. Es ist das frische Blut aus der Wunde, in der eben
noch sein Zahn steckte, gehalten von ein paar Fasern, die jetzt gerissen sind.
    Er nimmt die Finger der rechten Hand vor den Mund und schiebt mit
der Zunge das, was er für seinen Zahn hält, heraus. Mit der Linken kramt er in
seiner Tasche. Dort bewahrt er sein Feuerzeug auf, den einzigen Schatz, den er
seit Monaten hüten kann, und immer noch hat er ein bisschen Benzin dafür. Ganz
kurz leuchtet die Flamme auf, dann ist es wieder dunkel. Doch er hat ihn
gesehen, seinen Zahn. Dann wirft er ihn weg.
    Es ist dunkel, vollkommen dunkel, aber er weiß, wo er Ölpapier
findet, und auch, wo die Holzscheite liegen. Er tastet sich am Regal entlang
bis zu der Stelle, wo das Papier gelagert ist. Er knüllt es zusammen, wirft es
ein Stück vom Regal weg auf den Weg, gibt Holzspäne dazu, alles im Dunkeln.
Dann, als er meint, er habe genügend zusammengetragen, um ein ausreichendes
Feuer zu entfachen, will er seinem Feuerzeug eine Flamme entlocken. Vergeblich.
War es die letzte Flamme, in deren Schein er seinen Backenzahn gesehen hat?
    Immer wieder rieselt der Funkenregen des Feuersteins um den Docht,
aber es lässt sich keine Flamme mehr entzünden. Er schüttelt das Feuerzeug,
hält es über Kopf in der Hoffnung, dass noch etwas Benzin durch den Docht
sickert, doch immer wieder aufs Neue die Enttäuschung, verbunden mit der Angst,
dass auch der Feuerstein bald aufgebraucht ist. Da endlich gelingt es ihm, eine
Flamme zu entzünden. Er hält sie sofort an das Ölpapier, es flammt auf, und der
Stollen wird in Licht getaucht, die betonierten Wände, die sich nach wenigen
Metern schon verlieren, dann der nackte Fels.

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