Hirschkuss
schwieriger«, machte sich Steff Nachtweih jetzt ein wenig wichtig. Anne sah ihn von der Seite an und fand, dass er gut aussah mit seinem Schnurrbart und der feinen Nase, beinahe wie der Paradewilderer aus einem Spielfilm. »Die Stämme haben ein Saugewicht. Ein falscher Schnitt mit der Motorsäge, und der schlagt dich tot. Du musst genau schauen, wo du anfängst zum sägen und wo du weitermachst. So ein Stamm wiegt bald so viel wie ein Lkw und ist dreißig Meter lang. Wenn’s den auf dich draufhaut, dann schaust nicht mehr frisch aus.«
»Bœuf tartare«, warf Leonhard Soder finster blickend ein.
Ohne darauf einzugehen, fuhr Nachtweih fort: »Bevor du sägst, schaust du genau, wohin der Baum fallen kann. Damit er nicht so viele andere Bäume verletzt oder mitreißt. Es geht nie nur um den einen Baum, sondern immer um den ganzen Wald. Der gefällte Baum muss genau durch eine Lücke zwischen den anderen fallen. Der Holzer muss schauen und denken bei der Arbeit. Sonst ist er verratzt.«
»Wenn ein Baum von einem anderen Baum verletzt wird, der wo ihn im Fallen streift, dann ist das scheiße«, erklärte Hannawald. »Weil dann ist die Qualität am Arsch. Der verletzte Baum kriegt Rotfäule oder sonst was, und der Kunde zahlt nix mehr fürs Holz, also jedenfalls fast nix.« Der dunkelhäutige Waldarbeiter hatte damit begonnen, sein Brotzeitgeschirr zusammenzupacken.
»Wer sind denn eure Kunden? Ich meine, an wen verkauft ihr das Holz?« Anne sah die vier Männer offenen Blicks an. Die Wurst hatte sie längst aufgegessen. Sie hatte gut geschmeckt.
»Mit dem Verkauf haben mir rein gar nix zu tun. Das macht im Normalfall der Förster«, erklärte Uli Zernet.
»Wie, Normalfall?«, hakte Anne nach. Eigentlich interessierte sie sich nicht sonderlich für die Details der Holzfällerarbeit, spürte aber, dass die Männer durch ihr intensives Nachfragen Vertrauen fassten und sich ihr öffneten. Wenn Anne etwas über die Vorgänge im Wald erfahren wollte, dann war sie hier an der richtigen Stelle.
»No ja, unser Wald gehört jetzt nicht mehr zu den Staatsforsten, sondern so einem Holzinvestor, also privat. Und der meint, dass er selber den Förster spielen muss.«
Anne hörte die Verachtung in Zernets letzten Worten. »Und den Investor mögt ihr nicht?«
Auf diese Frage hin streckte Steff Nachtweih sich abrupt und sagte: »Also, ich sag jetzt nix.«
Anne sah, wie sich die Blicke der anderen verfinsterten und sie zustimmend nickten. Dann zog Nachtweih, der sein Essenszubehör zwischenzeitlich im Rucksack verstaut hatte, aus einer Seitentasche des Gepäckstücks eine braune Glasflasche mit Bügelverschluss und aus der anderen einen schnapsglasgroßen Blechbecher, den er Anne in die Hand drückte. Auch die anderen Männer hatten plötzlich kleine Blechbecher in der Hand, Nachtweih schenkte jedem, auch Anne, den Becher bis knapp unter dem Rand voll. Ehe Anne sich’s versah, riefen die Männer »Auffi, obi, rum ums Eck«, dass der Wald davon widerhallte, und kippten sich den Likör in die Kehle. Schnell tat Anne es ihnen nach. Es war zwar erst kurz vor neun am Morgen, aber schließlich wollte sie von den Männern ja noch etwas wissen. Und da war es vielleicht nicht unklug, das merkwürdige Trinkritual mitzumachen. Die Polizistin hatte sich darauf eingestellt, dass Hals und Speiseröhre von dem bräunlichen Likör gleich bis in den Magen hinunter mächtig brennen würden. Doch dem war nicht so. Das Getränk schmeckte mild, hatte eine angenehme Süße und hinterließ im Mund einen sanften Nachgeschmack von Kräutern.
»Mmh«, sagte Anne und gab Steff Nachtweih den Becher zurück, den dieser nun für sich füllte und nach einem weiteren »Auffi, obi, rum ums Eck« genauso schwungvoll wie die anderen in den Mund schüttete. Wie seine Holzfällerkollegen berührte auch er den Becher dabei nicht mit den Lippen. Dies schien Teil des Rituals zu sein.
»Hat’s geschmeckt?«
»Schon«, meinte Anne. »Was ist das?«
»Kräuterlikör«, antwortete Josef Hannawald knapp. »Dein Magenfreund.« Lag es an der Wirkung des Alkohols, dass er auf Anne plötzlich gar nicht mehr so finster wirkte?
»Hirschkuss«, ergänzte Nachtweih Hannawalds Erklärung. Die Flasche hatte er schon wieder verstaut. »Den gibt’s nach jeder Brotzeit.«
»Da rührt sich was«, fügte Zernet an – der Satz hing ein wenig seltsam in der Luft – und stand auf. »So, dann packen wir’s wieder.«
»Bitte setzen Sie sich noch einmal einen Augenblick«, bat
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