Hirschkuss
er auf sonderbare Weise distanziert. Nie wieder hatte er sie so zärtlich berührt wie damals auf dem Sofa, als sie derart schwach gewesen war. Nie wieder hatte er gesagt, ihre Ohrläppchen erinnerten ihn an Glückskleeblätter. Aber es schien auch keine andere Frau in seinem Leben zu geben, jedenfalls keine feste Freundin. Dass er sehr viel arbeitete, glaubte Anne ihm. Doch was wollte er von ihr, wenn er nichts unternahm? Musste wirklich sie den ersten Schritt tun? Und war es nach all den Monaten dazu nicht viel zu spät? War ihre Tochter Lisa für ihn ein Problem? Wollte Johann vielleicht gar keine Familie?
Enzian, Liebstöckel, Waldmeister, Arnika, Ingwerwurzel und fünfunddreißig andere Alpenkräuter und -wurzeln bilden die Grundlage des Hirschkuss-Kräuterlikörs. Da rührt sich was!
Petra Waldherr-Merk, Kräuterhexe
VIER
Mittwoch
Was war das nur für ein Sommer? Nach den immer neuen Hitzerekorden des Vorjahres schien dieses Jahr alles auf einen Nieselregenrekord hinauszulaufen. Bereits am zweiten Tag, nachdem sie beschlossen hatte, täglich in der Nähe des Hotels, aus dem Hanna Nikopolidou aus unerfindlichen Gründen verschwunden war, laufen zu gehen, kostete es Anne große Überwindung, diesen Plan auch wirklich in die Tat umzusetzen. Lustlos joggte sie durch den dämpfigen Wald. Unter ihren Füßen knirschten die feinen Steine des Wanderwegs, der vom Hotel hinauf auf den Berg führte. Wegen des miesen Wetters schien kein Mensch außer Anne am Berg unterwegs zu sein. Doch plötzlich hörte die Polizeihauptmeisterin Stimmen. Ihrer Lautstärke und Tiefe nach musste es sich um mehrere Männer handeln. Anne folgte dem Wanderweg noch eine Weile. Weil sie dann aber den Eindruck hatte, sich wieder von den Stimmen zu entfernen, blieb sie stehen und lauschte. Die Geräusche kamen von weiter oben her. Über knackende Äste und raschelndes Laub verließ sie den Waldweg und lief zügig den Steilhang hinauf. Der feuchte Waldboden gab schmatzende Geräusche von sich. Anne fühlte sich, als bewegte sie sich über das Kissen eines Urzeitriesen.
Bald wurde das Gelände so steil, dass die Polizistin außer Atem geriet und vom Laufen ins Gehen wechselte. Auf ihrer Stirn vermischten sich erste Schweißperlen mit den Tropfen des schütteren Regens. Sie war noch etwa zwanzig Meter von den Männern entfernt, da konnte sie durch die Stämme hindurch ihre orangefarbenen Sicherheitsjacken und die grünen Hosen erkennen. Es handelte sich offensichtlich um vier Holzfäller. Sie saßen auf einer frisch gefällten Buche und machten Brotzeit. Neben ihnen standen Motorsägen und mehrere Kunststoffkanister, vermutlich mit Benzin oder Öl gefüllt, auch Äxte lagen herum, die auf Anne riesig wirkten.
»Ja, da schau her, da kommt ein Reh«, rief einer der Männer aus, als Anne auf die kleine Lichtung trat, die durch die Fällarbeiten entstanden war. Jetzt wandten sich auch die drei anderen der Polizistin im eng anliegenden Laufdress zu. Anne fühlte sich unwohl.
»Sie wissen fei schon, dass das hier Sperrgebiet ist, junge Frau!«, blaffte ein anderer Anne an. Er hatte den Bissen seines Wurstbrots, den er gerade genommen hatte, noch nicht ganz heruntergeschluckt. Der Kerl war ein schwerer Klotz mit einem schwarzen Bart, der nach unten hin ausfranste.
»Nö? Wo steht das?« Anne bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. Die Männer wirkten auf sie wild und einschüchternd.
»Jetzt reden’S doch keinen Schmarrn! Wir haben überall Warnschilder aufgestellt!« Und an die anderen gerichtet sagte er: »Die Deppen kapieren’s einfach nicht. Für was stellen wir die Schilder denn eigentlich auf?«
»Es tut mir leid, ich habe wirklich kein Schild gesehen. Ich bin da unten den Wanderweg vom Hotel hochgekommen, und dann habe ich Ihre Stimmen gehört und mir gedacht, da schaue ich doch mal, was für Gesellen sich bei diesem scheußlichen Wetter im Wald herumtreiben.«
»Der war gut!«, platzte der jüngste der drei Männer hervor. Sein braunes Haar war nass geschwitzt, ein blonder Schnurrbart von einer Länge, wie ihn Anne bei einem jungen Mann schon lange nicht mehr gesehen hatte, zierte seine Oberlippe. »Gesellen!«, rief er, dann lachte er laut. Er mochte in ihrem Alter sein und wirkte nicht ganz so abweisend wie die anderen drei, die Anne alle auf über fünfzig schätzte.
»Du kommst zu spät, du fesches Madl. Unsere Brotzeit ist nämlich eigentlich schon vorbei.« Ohne auf die abweisenden Blicke seiner älteren Kollegen zu
Weitere Kostenlose Bücher