Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
Vom Netzwerk:
Welt bis heute bewegt, ist jedoch, wie es die Benediktinermönche dreihundertundvier Jahre lang ohne den herrlichen Trunk hatten aushalten können.
    Nachdenklich verließ Anne die kleine Polizeiinspektion und radelte an der Südseite des Sees nach Hause, um ihre Tochter vom Hort abzuholen. Lisa, die im Gegensatz zu ihrer Mutter blondes Haar hatte, erzählte empört, dass sie in der Matheklassenarbeit nur eine Zwei bekommen habe, obwohl alle Ergebnisse richtig gewesen seien.
    »Du hättest eben auch den Rechenweg hinschreiben sollen, Fee«, versuchte Anne ihre Tochter zu beschwichtigen.
    »Pah, bei so ’ner Babyaufgabe brauch ich doch keinen Rechenweg. Das kann ich doch im Kopf!«
    »Außerdem ist eine Zwei doch eine super Note«, wirkte Anne tröstend auf das Kind ein.
    »Krieg ich eine Belohnung?«
    Anne schmunzelte. »Na klar bekommst du eine Belohnung.«
    »Einen neuen Bikini?«
    »Ist das nicht eine etwas große Belohnung?«
    »Nö, wieso groß? Ist doch total klein! Ich weiß auch schon, welchen. Den gleichen, den die Emilie hat. Rot mit rosa Punkten.«
    »Rot mit rosa Punkten«, wiederholte Anne. »Wieso brauchen Neunjährige eigentlich Bikinis? Ihr habt doch noch gar keine Brüste.«
    Anne erntete einen empörten Blick. »Ich will aber einen.«
    »Na, das muss ich mir nochmal überlegen. Ein Bikini ist teuer. Und wir haben nicht so viel Geld zurzeit.«
    Als Polizeihauptmeisterin verdiente Anne eher unterdurchschnittlich. Und seit ihr Freund Bernhard von Rothbach vor zwei Jahren ausgezogen war, war es mit dem Geld noch knapper geworden. Zwar hatte Bernhard als Doktorand auch nicht viel verdient, aber immerhin hatten sie sich die alltäglichen Kosten teilen können. Und er hatte hauptsächlich zu Hause gearbeitet. Seit er ausgezogen war – er hatte mit der Therapeutin, die ihn eigentlich von seinen Depressionen hätte heilen sollen, ein Baby bekommen –, musste Anne auch noch einen Hortplatz bezahlen.
    Und die nächste große Bedrohung für Annes und Lisas im Großen und Ganzen doch glückliches Leben an dem idyllischen See hatte die Polizistin auch bereits vor Augen: Das Haus mit der Marienfigur, dessen Garten direkt an den See grenzte, gehörte Bernhards Eltern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Anne und Lisa sich nach einer neuen Bleibe würden umsehen müssen. Und das war in dem idyllischen Tal, das Reiche aus der ganzen Welt als Wohn- und Urlaubsort schätzten, alles andere als einfach. Zumindest, wenn man nicht zufällig Millionär war oder Nachfahre einer Großbauernfamilie, die seit Jahrhunderten über Grund und Boden verfügte.
    Immerhin sah Anne einen kleinen Hoffnungsschimmer am Horizont: Er hatte, obwohl er erst vierzig war, fast weißes Haar, war Strafverteidiger und hieß Johann Bibertal. Im Prozess um den Mord an dem Hippiemädchen Madleen Simon aus Sachsen war er der Anwalt des Täters gewesen. Johann hatte sogar schon einmal bei Anne übernachtet. Allerdings nur auf dem Sofa und ausgerechnet zu einer Zeit, als sie wegen einer Beinverletzung völlig bewegungsunfähig gewesen war. Er hatte ihre Füße massiert und ihr gesagt, dass er bewundere, wie sie ihr Leben als alleinerziehende Mutter meistere. Und dass ihn ihre Ohrläppchen an die Blätter von Glücksklee erinnerten. Sonst war in dieser Nacht nichts passiert. Und am Morgen waren beide erstaunt auf dem Sofa aufgewacht, halb sitzend, Annes von einem Streifschuss verwundetes Bein – eine Folge des Einsatzes bei einem Banküberfall – noch immer auf Johanns Oberschenkel.
    Auch seitdem war nicht viel zwischen ihnen gelaufen. Der heißeste Sommer seit Jahren war im Oktober durch sehr frühen Schnee abgelöst worden. Johann Bibertal hatte vorgegeben, in Arbeit zu versinken, sie hatten sich Kurzmitteilungen geschickt und noch mindestens zehnmal zum Kaffee getroffen. Aber sie waren sich nicht nähergekommen, jedenfalls nicht körperlich. Der Winter, den Anne sonst so mochte, weil sie es liebte, die glitzernden Pisten des verschneiten Tals mit den Skiern hinunterzukurven, war lang, kalt und dunkel gewesen. Wenn die Polizistin sich zurückerinnerte, kam es ihr vor, als hätte die Sonne höchstens einmal pro Monat die Wolkendecke durchstoßen. Anne aber war ein Sonnenmensch. Sie brauchte die Wärme wie andere Menschen das Essen.
    Bei den Treffen mit Johann hatte sie jedes Mal ein Ziehen im Bauch gespürt. Sie hatte versucht, dieses Gefühl einzuordnen: War das schon Liebe? Oder war es nur Verliebtheit? Johann schien sie zu mögen, doch blieb

Weitere Kostenlose Bücher