Hirschkuss
Kastner ungläubig. »Welcher Jäger ist denn für das Revier beim Hotel zuständig?«
»Das weiß, glaube ich, das Landratsamt.« Schon hatte Anne den Hörer in der Hand. Wenige Minuten später war klar, dass der Jäger, in dessen Revier Anne Zeugin des Streits geworden war, Blasius Singer hieß. Zudem erfuhr sie, dass Singer auch mit den Aufgaben in dem Revier rund um die Bernauer und die Liedler Alm betraut war. Auf ihre Frage, ob es üblich sei, dass ein Jäger zwei Reviere, die dazu doch relativ weit auseinanderlagen, betreute, erklärte ihr der Mitarbeiter des Landratsamts, dass Blasius Singer im Revier an der Bernauer Alm lediglich eine Vertretung übernommen habe.
»Kennst du den Singer, Seppi?«, fragte Anne ihren Kollegen.
»Ich nicht, aber der Kurt sicher, weil der kennt eigentlich jeden im Tal«, antwortete Kastner. Doch weil Polizeichef Nonnenmacher sich gerade – wie der Kollege aus der Telefonzentrale erklärte – »bei einem wichtigen Termin, respektive Weißwurstfrühstück mit den Feuerwehrkommandanten und den Einsatzführern der Bergwacht« aufhielt, meinte Kastner: »Dann heben wir uns den Singer jetzt noch einmal für später auf und knöpfen uns erst einmal den Mattusek vor. Mich würde es nämlich schon interessieren, was die da so fuchtig zum streiten hatten.«
Anne reagierte nicht sofort. Aber nach kurzem Überlegen sagte sie entschlossen: »Ich glaube, wir sollten uns erst noch einmal die Holzfäller vorknöpfen, und dann den Mattusek. Schließlich hatten die mir gesagt, wir sollten den Mattusek unter die Lupe nehmen.«
»Aber warum? Was sollte diese komische Andeutung? Der Mattusek ist doch viel zu fein, um sich die Finger schmutzig zu machen.« Kastner sah Anne ratlos an.
»Ich weiß es doch auch nicht. Aber genau deshalb sollten wir die Waldarbeiter noch einmal befragen.« Anne kramte in dem Chaos aus Papieren auf ihrem Schreibtisch und zog dann einen Zettel hervor. »Da ist die Nummer von diesem Steff Nachtweih. Den rufe ich jetzt mal an. Und der soll dann auch gleich noch seine Kollegen mitbringen.«
Steff Nachtweih schlug den Ermittlern vor, sich auf der Hafner Alm zu treffen. Der Vorteil dieses etwas abgelegenen Treffpunkts war, dass Anne schon wieder während ihrer Dienstzeit einen Ausflug in die Berge unternehmen durfte, wenngleich nur einen kleinen. Der Nachteil war, dass die Ermittler Zeit verloren. Denn die im Sutten gelegene Alm thronte immerhin auf 1100 Metern Höhe. Zum Glück konnte man die Aufstiegszeit durch die Anfahrt über die Mautstraße, die Anne bereits von ihrem letzten Ermittlungsausflug mit Nonnenmacher kannte, auf eine Viertelstunde verkürzen.
Im Auto sagte die Polizistin zu Kastner, der am Steuer saß: »Weißt du, Sepp, irgendwie habe ich so ein Gefühl, dass … die nicht mehr lebt, die Hanna Nikopolidou.«
»Warum?«
Ehe Anne antworten konnte, brüllte Kastner »Du Depp, ja, du Volldepp du!« und machte wild gestikulierend und mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung. Beinahe wären sie beim Abbiegen von einem jener höhergelegten Geländefahrzeuge gerammt worden, die seit einigen Jahren viele Menschen als Zeichen ihres Wohlstands fuhren. Der »Zivilpanzer«, wie Nonnenmacher solche Fahrzeuge nannte, hatte ein Autokennzeichen, das ihn als Kölner auswies.
»Diese blöden Angeberautos!«, entfuhr es Kastner. »Wo waren wir jetzt stehen geblieben?« Das Sport Utility Vehicle war längst in Richtung Tirol verschwunden.
»Ich hatte gesagt, dass ich glaube, dass Hanna Nikopolidou nicht mehr lebt. Ich glaube das, weil es für den Fall, dass sie noch leben würde, nur zwei Gründe für ihr Verschwinden geben kann. Option eins: Sie ist abgehauen und sitzt irgendwo im Ausland.« Anne blinzelte und klappte den Sonnenschutz oberhalb der Windschutzscheibe nach unten. »Aber dafür gibt es null Anhaltspunkte. Keinen Abschiedsbrief, keine zusammengepackten Sachen, keine Kontoabhebungen. Wenn sie sich abgesetzt hätte, bräuchte sie doch irgendwann Geld! Und Option zwei für den Fall, dass sie noch lebt, ist, dass sie entführt wurde. Grund für eine Entführung könnte eine Erpressung sein. Aber dann müsste sich der Erpresser doch allmählich mal melden, oder was meinst du?« Anne sah Kastner an.
»Schon, aber es könnte ja auch sein, dass ein …« Kastner zauderte, weil er, was sexuelle Themen anging, einfach Hemmungen hatte. » …es könnte sich ja auch um einen Entführer handeln, der sich Frau Nikopolidou als eine Art Sexsklavin hält. So
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