Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
Vom Netzwerk:
dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren, doch das schien den Mann, der mit seinem Schnurrbart, seinem Jagerhut und dem karierten Hemd aussah wie ein Wilderer aus dem Bilderbuch, nicht im Geringsten zu stören. »Die Pappel gehört zum Ami oder zum Russen, aber doch nicht hierher! Da ist mir doch wurscht, wie schnell die wachst! Und außerdem ist es höchst fraglich, ob die nicht gleich verreckt bei dem harten Klima, das mir haben. Der Mattusek spekuliert auf den Klimawandel, aber ich sag euch: Da wird der sich brennen. Und das hab ich ihm auch schon gesagt. Aber der bringt das nicht in seinen Düsseldorfer Schädel hinein, der feine Herr Mattusek. Ist hier jemand aus Düsseldorf?«, fragte Nachtweih in die Runde. Eine Frau, die sich mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern an einem anderen Tisch einen Kaiserschmarrn teilte, hob schüchtern die Hand.
    »Ja, da schau her!«, blaffte Nachtweih die Urlauberin an. »Und – seid’s ihr vielleicht da, weil ihr durch Pappelwälder spazieren wollt’s?«
    »Nee«, antwortete die Frau, die eine neongrüne Multifunktionsbergjacke trug und an dem Tisch unter der Lampe mit dem großen Hirschgeweih saß, »das nicht. Der Hauptgrund für uns sind die intakte Flora und Fauna, die wir hier in Bayern vorfinden. Und dieser Berggasthof hier gefällt uns, weil man hier Tiere kucken kann. Die Kinder finden die Zwergkaninchen und Zwerghühner toll, und die Papageien und Ziegen, die der Almwirt Hafner hier um den Hof herum hält.«
    »… und der Wolfshund!«, rief der kleine Junge, der neben der Frau saß.
    »Und würden euch die Viecher auch gefallen, wenn die nicht zwischen Fichten und Buchen umeinander laufen täten, sondern zwischen Pappeln?«, fauchte Nachtweih die Touristen weiter an.
    »Mir ist das egal«, rief der Junge. »Hauptsache, der Wolfshund ist da!«
    »Ja, aber mir wär das nicht wurscht«, meldete sich ein älterer Mann zu Wort, der in einem grauen Strickjanker allein an dem Tisch in der Ecke saß, über dem Fotos von Rennwagen hingen. Seinem Dialekt nach zu urteilen, stammte er aus dem Tal. »Aber ich glaub auch, dass es so weit nicht kommt. Hand ins Feuer, der Hanswurst pflanzt hier nicht eine einzige Pappel, vorher legt man ihm das Handwerk.«
    »Wennst dich da nicht täuschst«, entgegnete Nachtweih, jetzt merklich ruhiger, auf die seltsame Drohung des Alten. »Den Abholzungsauftrag hat er uns nämlich schon gegeben.« Der Alte schwieg.
    »Wer ist der Mann?«, fragte Anne den Holzfäller so leise, dass es die Leute an den anderen Tischen nicht hören konnten. »Keine Ahnung. Ist ja auch wurscht. Wir müssen eh tun, was der Mattusek sagt. Meinen Job riskier ich nicht wegen ein paar Bäumen.«
    »Gut, aber lassen Sie uns jetzt noch einmal über Ihren Chef sprechen. Diese ganze Abholzungsgeschichte hat ja vermutlich nichts mit der verschwundenen Frau zu tun, oder?«, wandte sich Anne endlich dem eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit in der Berghütte zu.
    »Wie man’s nimmt«, meinte Nachtweih. »Einer, der wo so mit Wald umgeht – dem traut man doch alles zu, oder nicht?«
    »Wie meinen Sie das?«, hakte Kastner nach.
    Nachtweih nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas. »Wie ich das meine?« Er fixierte erst Kastner und dann Anne. »Das meine ich so, dass der Typ ein massives Frauenproblem hat. Das meine ich!«
    »Inwiefern?«, erkundigte sich Anne, es klang beinahe beiläufig. Trotzdem schien das Temperament des Holzfällers schon wieder hochzukochen, denn er stand auf und rief erneut in den Gastraum hinein: »Wer von euch hier hat eine Barbiepuppen?«
    Niemand rührte sich.
    »Die Jennifer«, rief der Junge, der sich gerade eben schon zu Wort gemeldet hatte, und zeigte auf das neben ihm sitzende Mädchen, dessen Wangen knallrot anliefen. Anne hörte, wie der ältere Mann in der kanarienvogelgelben Allwetterjacke vom Nebentisch seiner Frau zuflüsterte: »Das ist ja wirklich besser als jeder Wildererfilm.«
    »Die Jennifer!«, wiederholte Nachtweih laut. »Und sonst noch jemand?« Er schaute von Tisch zu Tisch. Keiner meldete sich.
    »Da schau her! Alles normale Leute. Die Jennifer ja eh. Weil ein Kind natürlich eine Barbiepuppen haben kann, meinetwegen auch zehn oder tausend. Aber wenn ein Mann eine Barbiepuppen hat, dann ist doch da was faul. Und wenn so einer dann auch noch Pappeln im Bergwald pflanzt, dann ist das kriminell. Das ist jetzt aber bloß meine Meinung!« Er setzte sich wieder, und sofort verbreitete sich aufgeregtes Gemurmel an allen

Weitere Kostenlose Bücher