Hirschkuss
eigenen. Aber waren sie nicht ebenso weich? Anne öffnete den Mund und tastete sich mit ihrer Zunge vorsichtig an die Innenseite seiner Lippen. Behutsam erkundete sie seine Zähne. Als sich ihre Zungen das erste Mal berührten, glaubte Anne, sich in nichts aufzulösen.
Nach einer Weile löste Anne sich langsam von Johanns Lippen, legte den Mund an sein linkes Ohr und hauchte: »Du bleibst heute hier.« Sie kam sich verrucht vor.
Johann hatte die Augen geschlossen und zögerte einen Moment. Dann antwortete er in normaler Lautstärke und – wie Anne fand – schrecklich vernünftigem Ton: »Das geht nicht.«
Anne erstarrte. Sie brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie wieder etwas sagen konnte. »Wie bitte?«
»Es geht nicht. Ich fliege um sechs nach Berlin. Das heißt …«, er hob seine linke Hand mit der Uhr und warf einen Blick darauf, »… dass ich noch genau fünfeinhalb Stunden Zeit habe, um nach Hause zu fahren, ein paar Sachen einzupacken und zum Flughafen zu kommen.«
Anne schluckte und schloss die Augen. Sie war enttäuscht. Sie hatte sich ihm hingegeben. Doch er schob wieder seine Arbeit vor. War sie ihm nicht attraktiv genug? War sie ihm zu alt?
»Wenn mit dem Prozess morgen alles so läuft, wie ich mir das vorstelle, bin ich aber am Abend zurück. Und dann könnte ich …«
Der Satz drohte sich in der mit einem Mal kühlen Seenacht zu verlieren. Nieselte es? Mit beinahe schüchterner Stimme fragte Anne: »Und dann könntest du …?«
»Wiederkommen.«
Bei der Verabschiedung an der Tür drückte Anne sich fest an Johanns Körper. Sie dachte an Siebenschläfer, hässliche Tiere, die mit ihren Klauen an Ästen hängen, als wären sie festgewachsen. Johanns Hände glitten von ihrem Rücken hinab auf ihren Po. Immerhin: Er begehrte sie. Anne spürte ihre Kleider nicht mehr, ihre Haut glühte trotz der kalten Nachtluft. Der Abschiedskuss war kurz, aber zärtlich.
Als er gefahren war, ging Anne zurück auf die Terrasse und lauschte den Geräuschen des Sees: dem Plätschern des Wassers, dem Rascheln der am Ufer wachsenden Weiden. Dann ließ sie ihre Kleider auf die Steine der Terrasse fallen, schritt barfuß durch das nachtfeuchte Gras und ließ sich ins Wasser gleiten. Es war eisig. Die Kälte straffte ihren nackten Körper, es fühlte sich gut an. Anne tauchte unter. Nach einigen hastigen Schwimmzügen stieg sie schnell wieder heraus, rannte über die Wiese zum Haus, stellte sich unter die heiße Dusche, cremte sich danach mit einer nach Lavendel duftenden Lotion ein und legte sich ins Bett. Vielleicht würde Johann ja wirklich morgen wiederkommen.
Unter »erotischem Fetischismus« versteht man ein gestörtes Sexualverhalten, bei dem die sexuelle Erregung ausschließlich durch Berührung oder Besitz von Gegenständen erreicht werden kann.
Friedrich Arnold Brockhaus, Enzyklopädist
FÜNF
Donnerstag
Nieselregen am nächsten Morgen. Anne wurde wie immer von Lisa geweckt. Ihre Tochter war schon fertig angezogen und teilte ungeduldig mit, dass sie Hunger habe. Annes Kopf fühlte sich ein wenig benommen an. Doch die Gefühle des vergangenen Abends waren noch präsent.
»Warum bist du nackig?«, fragte Lisa.
»Mir war so heiß gestern, Fee.« Gedankenverloren hob Anne ein Kleeblatt von dem kleinen Teppich neben ihrem Bett, sie musste es nach dem nächtlichen Bad an den Füßen hereingetragen haben.
Später, nachdem sie Lisa in die Schule gebracht hatte, machte Anne sich wieder auf zu ihrer Laufrunde im Wald. Als sie ihr Fahrrad an der Mauer neben der zum Hotel gehörenden kleinen Weinhandlung abstellte und in Gedanken gerade bei Johann war, winkte der nervige Fensterversandunternehmer Horst Achleitner ihr vom Hoteleingang aus zu. Anne tat so, als sähe sie ihn nicht, sperrte hastig das Rad ab und joggte schnell den Berg hinauf los.
»Frau Loop, Frau Loop, jetzt wartet Sie doch!«
Anne stellte sich taub, aber da kam ihr ein eleganter Herr mit Lederkoffer in der Hand entgegen. »Ich denke, da verlangt jemand nach Ihnen«, sagte er und deutete zu Achleitner. »Wollen Sie nicht warten?«
Mit einem »Fuck« blieb Anne stehen, drehte sich um und blickte Achleitner entgegen, der – soweit sein massiger Körper es zuließ – zu ihr eilte.
Völlig außer Atem keuchte er: »Ich wollte mich noch von Ihnen verabschieden. Ich reise leider ab, heute.«
Anne nickte nur, ihr Gesichtsausdruck signalisierte Desinteresse bis Verachtung.
Doch davon ließ sich der Mann mit der Kartoffelnase nicht
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