Hirschkuss
wie der, wo diese junge Österreicherin entführt hat. In so einem Fall gibt es natürlich keinen Erpresser, der irgendwas fordert. Da ist die Frau dann einfach weg, von der Bildfläche verschwunden, in so einem Kellerverlies, und wird am laufenden Band … weißt schon …«
»Das stimmt natürlich«, räumte Anne ein und blickte nachdenklich aus dem Fenster. »Aber das wäre dann wirklich eine Katastrophe. Ich bin mir gar nicht sicher, was besser für Hanna Nikopolidou wäre – dass sie tot ist oder dass sie sich in der Hand eines Vergewaltigers befindet.«
Als die beiden Ermittler den Gastraum betraten, saß Steff Nachtweih bereits an dem Tisch rechts im Eck unter dem alten Jagdgewehr und dem Foto mit dem Wolfshund. Er hatte ein Bier und einen Teller mit einer Schnitzelvariante vor sich stehen, die der Almwirt eigens für seine Gäste kreiert hatte: Unter der Panade verbarg sich eine Schicht Meerrettich, welche dem Fleisch eine gewisse – manche im Tal sagten »wildererhafte« – Schärfe verlieh.
Der Auftritt der Polizisten zog die Aufmerksamkeit der anderen Personen auf sich, die Gespräche und das Geklapper des Bestecks stoppten, und für einen Moment waren alle Blicke auf die beiden Beamten in Uniform gerichtet. Kastner, der diesen Umstand bemerkte und als unangenehm empfand, sagte, an alle gerichtet: »Ihr könnt’s fei schon weiteressen. Wir werden niemanden festnehmen, es gibt keine Schwarzbierkontrolle, und der Wirt wird auch nicht der Steuerhinterziehung verdächtigt.«
Über diesen nett gemeinten Scherz lachten allerdings nur sehr wenige der Anwesenden, was an der weitverbreiteten Angst vor Steuerprüfungen liegen konnte – die Finanzministerien kauften noch immer CD s in den einstigen Steuerhinterzieherparadiesen Schweiz und Liechtenstein auf. Aber auch die Tatsache, dass die meisten, die hier an den drei urigen Holztischen saßen, des Bairischen nur in Ansätzen mächtig waren und ihnen die feine Grobheit des bayerischen Humors nicht ganz geheuer war, mochte ihren Teil dazu beitragen. Immerhin nahm das Besteckgeklapper nach dieser kurzen Rede wieder Fahrt auf. Steff Nachtweih, der Forstarbeiter mit dem feschen Schnurrbart, blieb sitzen und reichte erst Anne, dann Kastner über den Teller hinweg die Hand und begrüßte sie mit einem freundlichen, aus dem vollen Mund herausgequetschten »Servus, ich hab schon bestellt, weil ich muss dann wieder los«.
»Wo sind die Kollegen?«, fragte Anne und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber von Steff Nachtweih nieder.
»Die können nicht.«
»Wie, die können nicht?«, platzte es aus Kastner heraus. »Das ist hier eine Vernehmung!«
»Ach so, ich hab gedacht, es langt, wenn ich da bin.«
»Nein, das langt nicht«, schnaubte Kastner wütend.
»Jetzt mal halblang, Seppi, das kann vielleicht auch meine Schuld sein«, wirkte Anne beruhigend auf den Kollegen ein. »Vielleicht habe ich das nicht so richtig … kommuniziert.« Und an Steff Nachtweih gewandt, sagte sie: »Herr Nachtweih, wir wollten mit Ihnen noch einmal über Ihre seltsamen Andeutungen bezüglich Ihres Chefs, Herrn Mattusek, sprechen.«
»Ja, und, was wollt’s wissen?«, fragte der Holzfäller trotzig. Die Bedienung des Hauses, das der Naturfilmer Norman Dix im Jahr 1935 gebaut und in dem er jahrelang ein nach ihm benanntes Café betrieben hatte, kam an den Tisch. Anne bestellte sich eine Johannisbeerschorle, Kastner ein Spezi. Nicht, weil es ihm besonders gut schmeckte, sondern weil es in den meisten Wirtschaften das billigste Getränk war.
»Warum haben Sie bei unserer letzten Begegnung im Wald gesagt, wir, also die Polizei, sollten uns mal mit der Person Ihres Chefs, Wolfgang Mattusek, auseinandersetzen?«, wandte Kastner sich nun in gemäßigterem Tonfall an den Waldarbeiter.
Nachtweih legte Messer und Gabel, die er mit seinen großen Händen gehalten hatte, als wären es zwei Hammer, laut auf den Teller und raunte böse: »Weil der Mattusek ein Verbrecher ist. Weil der für Geld alles macht. Wisst’s ihr, was der mit unserm Wald vorhat? Der will da Pappeln pflanzen! Pappeln!« Während der letzten Worte wurde Nachtweih immer lauter, weshalb die Gespräche an den anderen Tischen erneut verstummten und die Blicke aller sich der Eckbank mit den Polizisten zuwandten. »Und da frage ich mich – und ich bin einer, der wo hier aufgewachsen ist –, also ich frage mich: Was brauchen wir in Bayern Pappeln, wo wir doch wunderbare einheimische Bäume haben?« Nachtweih bemerkte,
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