Hirschkuss
Sinnlichkeit nackert die Baumrinde erkundet. Und am Ende gibt’s einen Brennnesseltee, für den die Blätter von einem echten Dalai Lama aus Tibet gepflückt worden sind.«
»Kurt, es gibt bloß den einen Dalai Lama«, korrigierte Kastner seinen Chef. »Und der kommt garantiert nicht in unser Tal.«
»Und warum nicht?«
»Weil mir katholisch sind und der deswegen bei uns übrig wär wie ein Kropf.«
»Jetzt redet bitte nicht so ’ne Scheiße!«, unterbrach Anne die beiden. »Es geht hier um eine Leiche! Und diese Frau ist garantiert nicht aus esoterischen Gründen nackt unter einem Baum gelandet – Mannomannomann!«
Annes Kollegen waren von dieser Ermahnung sichtlich betroffen. Sogar Fritzenkötter wartete einige Sekunden, ehe er die Zigarette, die er sich gerade hatte anzünden wollen, entflammte. Da sich niemand mehr etwas zu sagen traute, erklärte Nonnenmacher die Besprechung wenig später für beendet.
Gegen elf Uhr saßen Anne und Kastner bereits wieder in ihrem Dienstzimmer. Anne hatte sich den Bericht des Rechtsmediziners mitgenommen und studierte noch einmal dessen Ausführungen. Da fiel ihr auf, dass Kastner gar nichts mehr von seiner Liebe zu Jane Kramermayer erzählt hatte.
»Sag mal, Seppi, was ist eigentlich mit deiner Jane?«
»Sepp-i?« Kastner schenkte Anne einen vorwurfsvollen Blick und schwieg.
Anne schmunzelte und sagte dann noch einmal und im selben Tonfall: »Sag mal, Sepp, was ist eigentlich mit deiner Jane?«
»Nix, was dich interessieren müsst.«
»Oh, oh, das hört sich aber nicht gut an?« Anne gab sich alle Mühe, nicht ironisch zu klingen. »Hast du sie nicht mehr getroffen?«
»Doch«, brummte Kastner, zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und schob sie wieder zu, zog eine andere auf und schob auch diese wieder zu. Es war eine Übersprungshandlung.
»Und?«
»Nix und.«
»Sondern?«
»Nix sondern!«
Anne gab auf, schwieg und konzentrierte sich wieder auf ihre Akte. »Der Zustand der Toten ähnelt einer Leiche, die unter einen Lastwagen gekommen ist …«, murmelte sie.
»Das musst du dir einmal vorstellen!«, platzte Kastner dann völlig unerwartet doch noch hervor. Anne schreckte hoch. »Da kommt dieses Weib das letzte Mal doch glatt mit ihrem Mann zum Rendezvous!« Kastner sprach das Wort so, wie man es schreibt.
»Was!?«, rief Anne mit Empörung, aber auch einem Hauch von Ironie. »Das ist ja wohl die Höhe!«
»Das mein ich auch! Und dann hab ich auch herausgefunden, was die eigentlich von mir will, die Schlampe, die nichtsnutzige.«
»Schlampe? Was denn?« Anne war jetzt ehrlich gespannt.
»Keine Liebe.«
»Keine Liebe«, sagte Anne. »Sondern Sex?«
Kastner errötete. »Nein, Kohle.«
»Geld? Von dir?« Anne musste lachen. »Da ist sie bei einem Polizeiobermeister ja genau an der richtigen Stelle!«
»Kohle in Form von Immobilien«, konkretisierte Kastner, er war jetzt fuchtsteufelswild.
»Wie? Aber du bist doch kein Makler?«
»Ja, ja, aber die haben sich gedacht: Der Kastner Sepp, der kennt sich aus im Tal, der hört’s Gras wachsen, der kennt die Geheimtipps, der besorgt uns eine Wohnung. Die Jane, diese neureiche Hex’, wollt sich durch mich den Makler sparen. Das muss man sich einmal vorstellen!«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Ich bin nach Hause, hab mit meiner Mutter einen Kaffee getrunken, einen Marmorkuchen gegessen und das Kreuzworträtsel von der Bild der Frau gemacht … Für mich ist diese Bankertussi erledigt. Und dass die Nikopolidou umgebracht wurde, wundert mich keinen Strich mehr. Die sind doch alle bloß hinterm Geld her!«
Hierauf wusste Anne nichts zu sagen, und so schwiegen beide wieder, bis sie erneut ihre Gutachtenlektüre unterbrach und sagte: »Seppi, hör mal zu.« Kastner verdrehte die Augen, ließ das »Seppi« dieses Mal aber unkommentiert stehen. »Wir haben eine tote Frau unter einem Baumstamm gefunden, die aussieht wie von einem Baumstamm erschlagen. Der Baumstamm, unter dem wir sie gefunden haben, kann es aber nicht gewesen sein. Da passen die Spuren nicht zusammen, darüber sind wir uns ja einig. Welcher andere Baumstamm könnte es denn dann gewesen sein? Bei welcher Gelegenheit sonst fallen denn Bäume im Wald um?«
Kastner starrte Anne einen Augenblick an, dann sagte er: »Beim Holzfällen.«
»Und wer fällt in diesem Revier Holz?«
»Der Hannawald, der Soder, der Zernet und der Nachtweih.«
»Gut, der Nachtweih fällt weg, den können wir nicht mehr fragen, aber die anderen drei – die
Weitere Kostenlose Bücher