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Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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Sie, ich habe Gedächtnisprobleme oder einen Dachschaden? Dass ich debil bin oder so?«
    Anne schüttelte den Kopf. Und kurz nach vier saß sie bereits wieder im Zug. Diese Fahrt schien tatsächlich umsonst gewesen zu sein.

Donnerstag

    Um kurz vor halb acht lag Anne noch immer im Bett. Sie war wach, ihre Tochter hatte auch schon zweimal nach ihr gesehen, aber Anne hatte schlichtweg keine Lust gehabt aufzustehen. Ihr Körper fühlte sich ausgelaugt an, der Tag im Zug war offensichtlich nicht gerade das gewesen, was sie nach der Nacht im Wald gebraucht hätte. ›Ich könnte doch einfach krankmachen!‹ Leicht wie ein Schmetterling flatterte der Gedanke aus dem Nichts in ihren Kopf. Aber dann fiel Anne ein, dass ihr das gar nichts helfen würde, denn Lisa wollte ja trotzdem ein Frühstück und musste dennoch zur Schule gebracht werden. Anne schloss noch einmal schnell die Augen, konzentrierte sich auf den kleinen Zeh des rechten Fußes, den nächstgrößeren, den mittleren, den vorletzten und schließlich den großen Zeh. Dasselbe Gedankenspiel machte sie mit dem linken Fuß. Dann tastete sie sich in Gedanken über Schienbeine, Knie, Oberschenkel und die Hüfte bis zum Bauch. ›Ich atme ganz ruhig‹, sagte sie sich im Geiste. ›Ich atme ganz ruhig.‹ Sie atmete ein. ›Ich bin ein Berg.‹ Sie atmete aus. ›Ich fühle mich stark.‹
    »Mama, jetzt komm endlich!«
    Seufzend öffnete Anne die Augen. Wenn man Kinder hatte, war es unmöglich, auch nur drei Minuten am Stück in Ruhe zu meditieren! Sie beschloss, trotz der Müdigkeit vor dem Dienst joggen zu gehen. Das würde ihren laschen Körper in Schwung bringen.
    Ohne darüber nachzudenken, hatte sie erneut den Weg in den Wald genommen, in dem Hanna Nikopolidou zu Tode gekommen war. Die Schutzhütte der Holzfäller war verwaist. Auf ihren früheren Joggingrunden war Anne hier immer weitergelaufen, doch heute fühlte sie sich einfach nicht gut. Sie suchte nach einer Möglichkeit, ihr Bein hochzulegen, um es zu dehnen. In großer Entfernung, weiter oben am Berg, hörte die Polizistin das Geräusch von Motorsägen, die sich durch Baumstämme arbeiteten.
    Zur Tür der Schutzhütte führte eine kleine metallene Treppe mit einem Geländer in genau der richtigen Höhe für Stretchingübungen. Anne legte das linke Bein hoch und beugte sich mit dem Oberkörper so weit nach vorn, dass ihr Kopf das Knie berührte. Dann dehnte sie das rechte Bein. Anne spürte die Steifheit ihrer Waden, die Zugfahrt hatte ihre Muskeln nicht geschmeidiger gemacht. Sie versuchte das Bein noch stärker zu dehnen. Dann wanderten ihre Gedanken wieder zu den Fällen – Hanna Nikopolidou: bei einem Unfall zu Tode gekommen, die Holzfäller waren schuld. Die Studenten: an Anthrax gestorben, vermutlich kein Verbrechen. Wolfgang Mattusek: auch an Anthrax gestorben, jedoch kein Fleischverzehr, zudem Fesselungsspuren; sexueller Hintergrund möglich, aber unwahrscheinlich.
    Gab es eine Verbindung zwischen den beiden Anthraxfällen, die sie nicht sah? Dann fiel Annes Blick neben der Schutzhütte auf grünes Plastik. Über ihrem Kopf kreiste ein Raubvogel: »Gik, gik, gik – gik, gik, gik.« Anne erkannte den Schrei des Habichts nicht. Aber sie erkannte den Müllsack. Blitzschnell bekamen die Gedanken der Polizistin eine Richtung: Der Sack, der hier neben der Holzfällerhütte stand, war genau so ein Müllsack wie jene, in denen sie vorgestern das Gewehr und das Hirschgeweih gefunden hatte. Was bedeutete das? ›Müllsäcke gibt es viele, ich fange langsam an zu spinnen‹, dachte sie sich. Dann nahm sie das Bein vom Geländer und joggte los.
    Nach ein paar Metern setzte sich ein Gedanke in ihrem Kopf fest: ›Blödsinn.‹ Grüne Müllsäcke waren selten. Die meisten waren blau. Vielleicht noch schwarz oder gelb, aber grün? War das die Spur, die endlich Licht ins Dunkel bringen würde? Unversehens machte Anne kehrt, warf einen sichernden Blick in Richtung der Motorsägengeräusche, schnappte sich den grünen Müllsack und rannte damit auf direktem Weg zurück zu ihrem Fahrrad, das auf dem Hotelparkplatz stand. Ohne auf andere Menschen zu achten, sprang sie auf und war bereits einige Meter gefahren, da hörte sie eine wohlbekannte, schwäbische Stimme. »Frau Loop! Wartet Sie doch! Schwätze wir ein bissle, bloß ein bissle! Freuet Sie sich denn nicht? – Ich bin wieder da!«
    »Fuck you«, zischte Anne. Auf Horst Achleitner, den schmierigen Fensterunternehmer, hatte sie gerade in diesem Moment

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