Hirschkuss
Schutzhütte unserer drei Holzfäller.«
»Aha.« Kastner blickte Anne an, als wäre sie ein U-Boot, das aus dem Malerwinkel aufgetaucht ist.
»Ja, kommt dir der Müllsack denn nicht bekannt vor?« Annes Tonfall war jetzt angriffslustig. War sie denn nur von Idioten umgeben?
»Ach, so meinst du das! Nein, nein, also von mir ist der nicht! Meine Mutter und ich verwenden viel kleinere, und die sind außerdem blau.«
Anne schüttelte den Kopf. »Seid ihr eigentlich alle bescheuert? Seppi, das ist doch genau so ein Müllsack wie die, in denen das Gewehr und das Hirschgeweih steckten, die ich unter diesem Baumstumpf im Wald gefunden habe!«
»Ja und?«
»Bist du so begriffsstutzig, oder bist du so begriffsstutzig?« Anne schüttelte den Kopf. »Also, für alle Minderbemittelten im Raum …«
Sepp Kastner zog die Augenbrauen hoch. »He, he!«
»… meine Theorie ist, dass dieser Müllsack den Holzfällern gehört.«
»Wenn der bei der Schutzhütte stand, spricht viel dafür«, bestätigte Kastner, aber er verstand noch immer nichts.
»Gut!«, schrie Anne jetzt schrill. »Dann spricht doch noch viel mehr dafür, dass die anderen beiden Müllsäcke auch von den Holzfällern sind! Und in denen waren Sachen, die höchstwahrscheinlich von einem stammen, der gewildert hat. Denn ein Jäger hat ja wohl keinen Grund, seine Waffe in einem Plastiksack im Wald zu verstecken, oder? Ergo könnten die Holzfäller Wilderer sein!«
»Ja und?«, meinte Kastner. »Was bringt uns das?«
»Das will ich dir sagen, Seppi: Dies und die Tatsache, dass die Holzfäller einfach eine Leiche verschwinden lassen, zeigen doch, dass es mit deren Unrechtsbewusstsein nicht weit her sein kann. Die scheuen vor Straftaten nicht zurück! Wer Leichen verschwinden lässt und wildert, der bringt auch seinen Chef um!«
Kastner verzog das Gesicht. »Anne, der Mattusek ist an Milzbrand gestorben. Das ist eine Krankheit. Und außerdem …«, er deutete auf den Müllsack, »… gibt’s doch einen ganzen Haufen Müllsäcke! Anne, unser ganzes Tal ist praktisch voll davon!«
»Aber nicht in Grün! Das ist doch der Punkt, Mann! Es geht hier nicht um Müllsäcke, sondern um grüne Müllsäcke! Wie viele Leute haben schon grüne Müllsäcke! Kapierst du das denn nicht? Das gehört untersucht! DNA -Abgleich, Fingerabdrücke, Materialspuren, das ganze erkennungsdienstliche Programm – damit wir herausfinden, ob die Holzfäller Wilderer sind. Das ist eine ganz zentrale Frage!«
Kastner schüttelte den Kopf.
»Leck mich«, fuhr Anne den Kollegen an und verließ mit ihrem Müllsack den Raum.
Am Abend, kurz vor Dienstschluss, hatte Anne das Ergebnis des Fingerabdruckvergleichs vorliegen – und triumphierte: Die Spuren auf dem Müllsack von der Schutzhütte stimmten mit jenen auf den Müllsäcken mit den versteckten Gegenständen überein. Anne war derart sauer auf ihre Kollegen, dass sie diese wichtige Information für sich behielt. Stattdessen beschloss sie, erneut auf eigene Faust zu handeln. Eilig suchte sie in der Nikopolidou-Akte nach der Adresse des Holzfällers Leonhard Soder, setzte sich aufs Fahrrad und zog wenige Minuten später an der Schnur der kleinen Messingglocke vor dem alten Bauernhaus. Zunächst rührte sich nichts, aber dann vernahm Anne ein Schlurfen auf hölzernen Dielen, und die Tür öffnete sich quietschend.
Anne fragte nach Soder, doch seine Frau, die einen schmuddeligen Jogginganzug trug und um die fünfzig sein mochte, erklärte, dass der Holzfäller in der Hafner Alm beim Einkehren sei. »In der Hafner Alm!« Anne schluckte. Das war ein weiter Weg. Sie blickte auf die Uhr. Es war bereits Viertel vor sechs. Lisa würde jeden Moment aus dem Hort kommen. Anne bedankte sich bei Soders Frau, verabschiedete sich und ging zu ihrem Fahrrad zurück, das an dem Zaun lehnte, der den kleinen Bauerngarten vor dem Haus umgrenzte. Anne dachte nach: Sollte sie es damit bewenden lassen und sich morgen, gemeinsam mit Kastner und Nonnenmacher, um die Holzfäller kümmern? Aber die beiden Kollegen hatten heute derart dämlich reagiert, dass sie keine Lust hatte, sich die Freude über ihren Ermittlungserfolg zerstören zu lassen.
Kurz entschlossen rief Anne bei Lisas Freundin Emilie an und fragte deren Mutter, ob sie Lisa vom Hort abholen könne. Als diese der Bitte entsprach, schob Anne auch noch kleinlaut hinterher, ob ihre Tochter vielleicht bei den Eberhöfers übernachten dürfe. Emilies Mutter sagte, dass das kein Problem sei, aber Anne
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