Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
büßen.« Sie hielt noch einmal inne. »Und wenn diese Hebamme ihre Pflicht und Schuldigkeit getan hat und Krechting lebt, will ich sie auch im Kerker sehen. Sie hat, wie es scheint, Tyde in eine Falle gelockt.« Hebrich griff nach dem Zettel, den die Zofe ihr hingelegt hatte, und hielt ihn Wolter unter die Nase.
Schemering nickte. »Dudernixen hat sie schon lange in Verdacht, dass sie nicht so harmlos ist, wie sie scheint. Ihr wisst schon, warum sie aus Jever geflüchtet ist?«
Hebrich verbannte jeglichen Gedanken an ein gutes Frühstück. Mit zwei weiteren Verbrechen war es in weite Ferne gerückt, sie würde all die Leckereien nur zwischendurch zu sich nehmen können. »Ich weiß es nicht, Schemering. Klärt mich bitte auf!«
»Sie galt dort als Toversche. Und seid ehrlich: Seitdem die Frau in der Herrlichkeit weilt, geschieht hier ein Unglück nach dem anderen.«
Hebrich runzelte die Stirn. Sie hatte von dem Hexenwahn in Jever und Riepe, aber auch in Aurich gehört und war keine Freundin davon. Es war menschenunwürdig. Einzig der Graf von Loquard sperrte sich gegen den Unsinn.
»Ihr glaubt es nicht?«, fragte Schemering.
»Zauberei! Wolter!«
»Und wenn doch was dran ist? Auch der Junge war vorher friedlich, und nun ist er eine Bestie! Sie ist außerdem mit ihm gesehen worden.«
»Wer behauptet das?« Hebrichs Stimme hatte sich verschärft. Sie wollte sich auf solche Verdächtigungen nicht einlassen, aber wenn ihr Landrichter diesen Thesen nachhing, kam sie nicht ohne Weiteres um eine Stellungnahme herum.
»Adele Stausand, in deren Haus sie Unterschlupf gefunden hat.«
Nun wurde Hebrich doch hellhörig. Adele Stausand war eine angesehene Witwe, die schon lange in der Herrlichkeit weilte und deren Mann ein guter Deichbauer gewesen war, bevor er vom Meer verschlungen wurde. Wenn Adele Stausand solche Dinge beschwor, musste sie es ernst nehmen.
»Was genau hat Adele gesagt?«
»Dass die Hebamme den Irren mit in ihre Kammer genommen hat«, wand sich Schemering.
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht.«
Hebrich atmete tief ein. »Das sagt ja nun gar nichts aus.«
»Und wenn sie den Knaben lediglich beeinflusst hat, damit er die Morde beging?« Schemering schien von seiner Idee sehr überzeugt zu sein.
Hebrich zögerte noch immer. Sie war keine Anhängerin solcher Mutmaßungen. »Wenn Adele Stausand der Hebamme Unterkunft gewährt hat, wird sie kaum unlautere Motive bei ihr vermuten. Und bloß, weil sich die Frau mit dem Jungen abgegeben hat, heißt das noch lange nicht, dass sie im Pakt mit den schwarzen Mächten ist, wenn es sie überhaupt gibt.« Hebrich erkannte an Wolters Blick, dass er sich mehr Handlungsfreiheit gewünscht hätte. Doch sie wollte ihm nicht mehr zugestehen, erst musste sie mit der Hebamme sprechen.
»Lasst sie zunächst versuchen, zusammen mit dem Arzt Krechting am Leben zu halten. Dann werde ich mit ihr reden.«
Sie winkte Schemering hinaus und starrte auf den Burghof. »Es muss alles anders werden«, dachte sie müde. »Alles anders.« Nur wusste Hebrich einfach nicht wie.
Kapitel 15
Der Knabe saß in einer dunklen Ecke der Zelle, klopfte seit Stunden mit dem Finger auf die immer gleiche Stelle des Bodens. Er fürchtete sich nicht mehr. Was sollte in seinem Leben noch schlimmer kommen? Er wusste, dass er gegen den mächtigen Mann verloren hatte. Er war in der Lage, das Meer zu bezwingen, warum sollte er es dann nicht schaffen, ihn, einen Jungen, zu überwältigen? Doch die See würde sich wehren. Irgendwann würde sie sich aufbäumen, den Wall überfluten und sich mit großer Macht über das Land ergießen und sie alle vernichten. Vielleicht aber würde sie sich auch zurückziehen und nicht wiederkommen. Ohne das Meer jedoch würden die Menschen hier abgeschnitten sein, denn sie brauchten das Wasser, um das Land verlassen zu können und damit die Schiffe die vielen Kisten heranschaffen konnten, deren Inhalt die Menschen hier zum Leben brauchten.
Das, was den Jungen noch mehr quälte als die Sorge um das Meer war die grausame Sehnsucht nach der Lebenspflückerin. Es bohrte in ihm, denn er wollte ihre Arme fühlen, wollte ihren Schutz. Doch zwischen ihm und ihr waren diese dicken Mauern, die Gitter vor dem kleinen Loch, das so hoch angebracht war, dass es ihm keine Sicht nach draußen bescherte. Doch es hätte ihm ohnehin nichts genützt, denn das Loch lag nicht in Richtung Burghof, sondern zur Graft, die wegen der viel zu vielen Menschen täglich mit mehr Unrat angereichert wurde
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