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Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Titel: Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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schien ihn zu zerfressen wie Mottenlarven ein Stück Leinen, das am Ende in seine einzelnen Bestandteile zerfiel. Er starrte die Männer weiter mit offenem Mund an.
    »Sprich!«, herrschte der Bader ihn an. »Hat die Hebamme dich angestiftet?«
    Der Wortsammler schüttelte den Kopf. Er zog die Schultern hoch, wollte damit seine Ohren verschließen; die Hände, mit denen er es sonst hätte tun wollen, waren zusammengebunden.
    Schemering drückte sie wieder hinunter. »Schluss jetzt!« Er fixierte den Jungen, der unter dem Blick die Augen verschloss. Danach wurde das Gesicht des Knaben weicher, es war, als verließe ihn die Angst mit jeder verrinnenden Sekunde. Er lächelte, seine unregelmäßigen Zähne zeigten sich. »Le-bens-pflücker-in«, stammelte er. »Le-bens-pflück-er-in.«
    Dudernixen schüttelte den Kopf. »Der ist komplett irre, wir verschwenden unsere Zeit.«
    »Bauch-freu-de«, sagte der Junge jetzt und rieb sich den Bauch. Er wirkte auf eine eigenartige Weise stolz.
    Wolter verstand überhaupt nicht, was der Junge sagen wollte, aber es war ganz eindeutig, dass er nicht in der Lage sein würde, sich in irgendeiner Form angemessen mit ihnen zu unterhalten und ihre Fragen zu beantworten.
    »Der konnte bislang nichts sagen«, sagte der Bader. »Gar nichts. Nur so komische Ausrufe. Und nun stammelt er wirres Zeug.« Er wandte sich Wolter zu. »Ob das Weib aus Jever ihn doch verhext hat? Das ist doch Zauberei, was er da von sich gibt. Wortverzauberei!«
    Wolter musste dem Bader recht geben, das Ganze war unheimlich. Dudernixen packte den Jungen am Hemd und schüttelte ihn. »Sag, was Hiske Aalken zu dir gesagt hat!«
    Der Junge sah den Bader verängstigt an. »Lebenspflückerin«, sagte er wieder. »Lebenspflückerin.«
    »So kommen wir nicht weiter, Dudernixen. Wir müssen uns auf seine Ebene begeben, er versteht doch gar nicht, was wir von ihm wollen.«
    Der Bader blickte Wolter skeptisch an und ließ den Jungen dann los. Schemering aber sah dem Knaben in die Augen, versuchte sogar ein Lächeln. Leicht fiel ihm das nicht, denn der Knabe stank nach Urin und Exkrementen, dazu war sein Atem faulig. Doch als er so dicht vor ihm stand, erkannte er erst, wie jung er wirklich war, erkannte, dass sie es mit einem Kind zu tun hatten. Einem Kind, das vor Panik nicht mehr ein noch aus wusste und sich vielleicht schon deshalb nicht artikulieren konnte.
    »Wer bist du?«, fragte er ihn. Ganz langsam, in der Hoffnung, dass er ihm etwas Vertrauen einflößen und ihm so ein paar Informationen entlocken konnte. »Ich«, er zeigte auf sich, »bin Wolter.«
    Das Gesicht des Jungen entspannte sich merklich. »Ich Wortsammler«, quetschte er heraus.
    »Der ist doch verrückt! Kein Mensch heißt Wortsammler!«, bauschte der Bader sich auf.
    Wolter gebot Dudernixen zu schweigen. Er war der zuständige Landrichter und würde den Dingen auf den Grund gehen, denn je länger er vor diesem verstörten Kind stand, desto klarer wurde ihm, dass sie einen Fehler gemacht hatten. Dieser Junge konnte nie im Leben ein Mörder sein. Es sei denn … er hielt inne. Es sei denn, jemand anders hatte seine Kraft für die eigenen Zwecke missbraucht. Denn es war ganz eindeutig, dass er nach jedem Strohhalm griff, der ihm Zuwendung versprach.
    »Du kennst Hiske?«
    »Lebenspflückerin«, wiederholte der Junge. »Bauchfreude, Schlafhöhle.«
    Wolter zuckte zurück. Der Junge hatte eine eigentümliche Art, sich auszudrücken, aber er versuchte, die Welt mit diesen merkwürdigen Worten zu erklären.
    »Die Lebenspflückerin … ist das Hiske, die Hebamme?«
    Der Junge nickte. »Lebenspflückerin!« Er fasste Wolter an die Hand und zog ihn zur Tür. »Lebenspflückerin«, stieß er immer wieder aus. »Lebenspflückerin, Bauchfreude!«
    Wolter aber zerrte ihn zurück und drückte ihn auf einen der mit rotem Samt bezogenen Stühle, ungeachtet seiner schmutzstarrenden Kleidung. »Du kannst jetzt nicht zu ihr.«
    Dem Jungen lief eine Träne übers Gesicht, es war, als habe er genau verstanden. Er weinte und schluchzte immer wieder dieses eine Wort. »Lebenspflückerin.«
    Wolter verspürte Mitleid. Hinrich hatte recht gehabt, es war nicht richtig, einen Menschen zu beschuldigen, nur damit im Lager Ruhe herrschte. Er war nicht der Wahnsinnige, als den die Menschen ihn immer darstellten. Wie viel wahrscheinlicher war es tatsächlich, dass die Hebamme etwas mit all diesen Dingen zu tun hatte. Es konnte ein Vorwand sein, dass sie als Verstoßene aus Jever

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