Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
und bestialisch stank.
Der Knabe hörte auf zu klopfen. Er lauschte in die Stille, doch da waren nur das Rascheln der Mäuse und das leise Fiepen einer Ratte, die nach etwas Essbarem suchte. Der Knabe tastete auf dem kalten Boden herum. Man hatte ihm einen Haufen Stroh untergeschoben, doch es war feucht und schimmelig, roch unangenehm. Dennoch hatte er ein Dach über dem Kopf, ein ungewöhnlicher Umstand. Die Feuchtigkeit des Kerkers ließ den Knaben frösteln. Er zog die Schultern hoch, suchte nach einer Decke, aber die hatten die Wächter vergessen. So wie sie ihn vermutlich bald vergessen würden, denn er war ihnen so wichtig wie der Wassertropfen in einer Pfütze.
Der Junge fühlte eine Träne die Wange herunterrinnen, tupfte sie mit dem Zeigefinger ab. Er betrachtete sie in dem schmalen einfallenden Lichtstrahl, der sich durch das Loch zwängte. »Herzweinen«, flüsterte er. »Herzweinen.« Danach brachen wahre Sturzbäche aus ihm heraus, und so hörte er nicht die Wachen, die die Tür zu seinem Verlies öffneten.
Sie lachten, als er ihnen mit geöffnetem Mund entgegenstarrte.
Magda Dudernixen war erleichtert, es ging voran. Sie hatten auf Melchior gehört und den Irren festgenommen. Das war gut, denn Magda befürchtete, ihr Mann könne doch noch ins Visier von Krechting und Schemering geraten. Seine Befriedigung über von Ascheburgs Tod war so unübersehbar, dass sie sich sicher war, dass er etwas mit dessen Tod zu tun hatte. Er hatte so viele Vorteile vom Tod des Lokators, schon bald könnte das jemandem auffallen, vor allem, wenn sie den Täter nicht bald fanden. Nun war es nicht so, dass es ihr um Melchior als Person gegangen wäre, aber ihre Position als Frau an seiner Seite wollte sie in ihrem Zustand weiß Gott nicht verlieren. Selbst dann nicht, wenn er der Mörder des Vaters ihres Kindes war.
Magda war hin- und hergerissen. Einerseits hatte er ihr den Mann genommen, der ihr die höchsten Wonnen beschert hatte, andererseits hatte sie ja selbst oft mit dem Gedanken gespielt, von Ascheburg aus dem Weg zu räumen. Ihre Trauer war so zwiespältig wie ihre Gefühle zu ihm. Er war nun weg, und sie hatte die Wahl zwischen einem armseligen Leben allein oder einem, das auch in der Zukunft Wohlstand und Ansehen versprach, vor allem, wenn Melchior nun von Ascheburgs Aufgabe als Lokator übernehmen konnte und an Krechtings Seite die Geschicke des neuen Ortes lenkte. Magda hatte es schon immer verstanden, alle Dinge für sich zum Guten zu wenden.
Sie war letzte Nacht doch rasch wieder umgekehrt. Zu groß war die Angst gewesen, dass Melchior ihr Verschwinden bemerkte. Sie musste vorsichtig sein. Kurze Zeit später hatte dann er die Lagerstatt verlassen, mit der Begründung, dass er sich den neuen Deich ansehen und ausloten wolle, wie er den Bau des neuen Siels und der neuen Stadt vorantreiben konnte. »Krechting kommt ja nicht weiter«, hatte er beim Abendessen gesagt. »Der Mann ist zu sehr mit seinem neuen Amt als Kirchenvorstand und mit unseren Zusammenkünften beschäftigt, ich glaube, es wächst ihm alles über den Kopf.«
Melchior war erst kurz vor Morgengrauen zurückgekehrt, und dem Geruch nach war er nicht nur am neuen Deich gewesen. Magda hatte eine gute Nase, und er roch eindeutig nach einer anderen Frau. Vermutlich hatte er sein Vorhaben noch mit einem Schäferstündchen bei der Marketenderin gefeiert. Magda hörte in sich hinein, empfand aber keinerlei Eifersucht, sondern eher Erleichterung. Wenn er bei Anneke gewesen war, würde er von ihr nichts mehr wollen, was ihr gut gefiel.
Magda hatte in der letzten einsamen Nacht lange nachgedacht und war zu dem Entschluss gekommen, dass sie lieber nach vorn schauen wollte, auch wenn es bedeutete, dass sie neben einem Mann schlafen musste, der sie ekelte. Doch die Vorteile dieses Arrangements überwogen, und so hatte sie mit Erleichterung vernommen, dass man in den frühen Morgenstunden diesen Irren verhaftet und in Hebrichs Kerker geworfen hatte. Die Bewohner der Wagenburg hatten den Jungen mystifiziert, ihn zu einem Wahnsinnigen deklariert. Dass er nun auch noch Kontakt zu Hiske Aalken gehabt hatte, war eine gute Fügung des Schicksals, denn so würde Melchior hoffentlich nicht in den Kreis der Verdächtigen geraten. Ehe man in Erwägung zog, dass einer von ihnen zu einer solchen Tat fähig wäre, würde man immer zuerst das Augenmerk auf die beiden legen, die kein Teil ihrer Gemeinschaft waren. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Sie für
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