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Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Titel: Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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hinter ihm her und verbaute dem Mann den Weg. Trotz seiner jungen Jahre war der Knabe mächtig gebaut, und so stand er dem ebenfalls kräftigen van Heek Auge in Auge gegenüber.
    »Was willst du Missgeburt?«, herrschte der ihn an und wollte den Wortsammler wegstoßen. Der aber hatte sich mit leicht gespreizten Beinen einen festen Stand verschafft und wich nicht von der Stelle. »Hau ab und lass mich des Weges gehen. Ich brauche eine Bettstatt, aber davon verstehst du Otterngezücht ja nichts.«
    Der Wortsammler warf den Kopf in den Nacken, ballte die Faust und stieß einen Laut aus, der dem Brüllen eines wütenden Stieres glich. Sofort verharrten alle Menschen und starrten zu den beiden herüber. Friso van Heek bemerkte das, und so dauerte es nicht lange, bis seine Faust in die Magengrube des Wortsammlers schnellte. Der Knabe sackte augenblicklich in sich zusammen, ein unerträglicher Schmerz durchzuckte ihn von oben bis unten. Dann erbrach er sich, und Friso van Heek marschierte an ihm vorbei, nicht ohne ihm noch einen gewaltigen Tritt verpasst zu haben.
    Keiner der Umstehenden näherte sich dem Knaben. So sehr alle die Hebamme schätzten, der Wortsammler war allen nach wie vor unheimlich. Er spürte das Tag für Tag. Ein Mann wie Friso van Heek konnte ihn einfach zusammenschlagen und würde dafür nicht belangt werden. Weil sich keiner für einen Jungen wie ihn einsetzte. Für ihn, den Wortsammler, den viele noch immer den Irren nannten. Der Knabe blieb lange im Dreck liegen, sah mit halb geöffneten Augen verstaubte Schuhe an seinem Gesicht vorbeihasten. Aber nicht eine Hand streckte sich ihm entgegen, um ihm hochzuhelfen. Sein Kopf schmerzte, kleine Steine bohrten sich in die Haut. Der Junge begann zu weinen, schluchzte heiser, doch noch immer half ihm keiner oder holte die Lebenspflückerin, damit sie ihn nach Hause brachte. Er war allein auf dieser Welt, allein inmitten vieler Menschen, die ihn einfach nicht als ihresgleichen akzeptieren wollten. Der Wortsammler war wie ein Regenwurm, um den man sich nicht scherte, egal, ob er in der Sonne vertrocknete oder ob er von einem Fuß zerquetscht wurde. Die Tränen des Knaben vermischten sich mit dem Staub des Weges, rieben sich in seine Haut. Das blonde Haar würde bald grau vor Dreck sein. Einmal hielt ein kleiner Junge an, zückte seine Flöte, die aus Knochen geschnitzt war, und blies ihm damit kräftig ins Ohr. Das grelle Fiepen raubte ihm eine Zeit lang das Gehör.
    »Wortsammler, was ist geschehen?« Garbrand beugte sich zu ihm herunter und strich ihm mit dem Zeigefinger über das schmutzige Gesicht. »Komm, steh auf!«
    Der Knabe spürte die kräftige Hand des Mönchs und griff danach. Er zog sich zum Sitzen hoch, kniff die Augen zusammen, weil die Sonne ihn blendete. Sein ganzes Hemd war voller Erbrochenem, er verzog angewidert das Gesicht, als er den Geruch wahrnahm. Anschließend wandte er den Kopf, suchte Friso van Heek. Er wollte ihm jeden einzelnen Knochen brechen. »Böser Mann?«, fragte er. »Böser Mann … Lebenspflückerin …«
    »Wir gehen jetzt erst nach Hause, ich wasche dich, und dann erzählst du mir, wer der böse Mann ist und was er getan hat. Um die Lebenspflückerin musst du dir keine Sorgen machen, ich habe gesehen, wie sie ins Haus der Bäckersfrau gegangen ist, dort kommt ein Kind auf die Welt. Das ist ihre Aufgabe, das weißt du.«
    Der Wortsammler stand auf, wischte sich notdürftig den Staub von den Beinkleidern, aber es half nicht viel. »Loegenpack«, stieß er aus, fuchtelte dann mit der Faust in der Luft herum und schrie das Wort noch einmal heraus: »Loegenpack! Alles Loegenpack! Gotteszorntreffer!«
    Als Garbrand sich mit dem Knaben auf den Weg machte, mieden die Menschen ihre Nähe. Sie fürchteten sich vor dem Wortsammler, in ihren Gesichtern spiegelte sich die Angst, dass sein Fluch der Wahrheit entsprach.
    Garbrand aber umfasste ihn mit seinem Arm, auch wenn er zwei Köpfe kleiner war und er den massigen Körper des Knaben nicht ganz greifen konnte. Allmählich wurde der Wortsammler ruhiger und hörte auf, mit der Faust die Luft zu zerteilen. Kaum hatten sie die Neustadt verlassen, entspannten sich auch seine Gesichtszüge. Die Wut auf die Menschen ließ langsam nach. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass ihm immer wieder böse Worte über die Lippen sprudelten.
    Im Haus der Hebamme wuchtete Garbrand den Waschzuber in die Küche, füllte ihn mit Wasser und half dem Knaben anschließend beim Bad. Als er den Wortsammler

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