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Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Titel: Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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neu eingekleidet und ein Gebräu aus Kräutern hergestellt hatte, fragte der Mönch: »Nun versuch mir mal langsam zu erklären, was der böse Mann wollte und wer er ist.«
    Der Wortsammler musste einen Augenblick nachdenken, bis er es schaffte, seine wirren Gedanken in ein Bild zu fassen, das er dem Mönch mit seinen Worten zeigen konnte. Garbrand kannte ihn gut genug; er wusste, wie lange das dauerte. Nach einer Weile hatte der Mönch erfasst, was geschehen war und von welchem Mann der Knabe sprach. Er seufzte. Seine Hände zitterten, er konnte sie kaum kontrollieren. Es dauerte eine Weile, ehe er sich beruhigt hatte. »Ein Medaillon mit einem Berg im Wasser«, flüsterte er. »Sah es aus wie ein Meerkristall?«
    Der Knabe nickte. »Meerkristall. Ja, Meerkristall.«
    Garbrand schürzte die Lippen, legte die Stirn in Falten und stierte eine Weile vor sich hin.
    »Was ist?«, fragte der Wortsammler und strich mit den Fingern über Garbrands von Altersflecken übersäte, faltige Hand.
    »Nichts, Wortsammler. Es ist nichts. Eine lange und alte Geschichte, die keine Bedeutung mehr hat. Es muss auch alles gar nicht so sein.« Dann erhob er sich, ging in den Vorraum des Hauses, nahm eine Bodendiele heraus und kam mit einem Krug zurück, der oben verschlossen war.
    Dem Wortsammler war das Versteck bekannt. Im Krug befand sich Genever, wie Garbrand das Gesöff nannte. Er hatte dem Knaben verboten, auch nur einen Schluck davon zu nehmen und ihm gleichzeitig klargemacht, der Hebamme nichts von dem Versteck zu verraten. »Es ist Giftwasser, Wortsammler. Macht kaputt. Ich brauch das aber. Manchmal.«
    Manchmal war immer dann, wenn Garbrand sich aufregte, wenn ihn etwas traf oder wenn ihn alte Erinnerungen an seine Zeit in England und seine Vertreibung aus dem Kloster anfielen.
    Nun saßen sich die beiden am Küchentisch gegenüber, der Knabe vor dem Kräutergebräu, Garbrand vor seinem Giftwasser. Sie brauchten keine großen Worte, um sich zu verständigen, jeder erspürte auch so, wie es dem anderen ging und was er dachte. Sie verband etwas, was sie selbst kaum verstanden, war doch der kahlköpfige Mann um so vieles älter als der Knabe.
    »Wir sind zwei versprengte Seelen im Wind und hier gestrandet«, sagte Garbrand, nachdem er sich zwei Becher vom Giftwasser in den Hals gekippt hatte. Danach roch er seltsam, und seine Augen hatten einen merkwürdigen Glanz, das kannte der Knabe schon. Was vorhin in der Neustadt geschehen war, ging beiden nicht aus dem Kopf. Und so griff Garbrand das Geschehene ein weiteres Mal auf.
    »Es ist gut, dass du auf deine Lebenspflückerin aufpasst, Wortsammler. Sie hat nur dich.« Er schenkte noch einmal nach. Garbrand musste sehr erschüttert sein, denn mehr als zwei Becher nacheinander trank er nur, wenn es ihm nicht gut ging. »Mich aber macht es unruhig, wie die Menschen mit dir umgehen und dass sie es dulden, wenn ein fremder Mann einfach auf dich einschlägt.« Garbrand verfiel in seinen melodischen Erzählsingsang, den er immer anstimmte, wenn der Genever sein Hirn benebelte.
    Er erzählte Geschichten, die der Wortsammler nie ganz verstand, die aber stets etwas mit Tod und Verderben zu tun hatten und Garbrand Tränen in die Augen trieben. »Dass sie das Meer einsperren, ist nicht schlimm, Wortsammler, davor brauchst du keine Furcht zu haben. Furcht musst du haben, wenn sie ihren Gottesglauben bis an die Spitze treiben und dabei vergessen, dass Gott zu den Menschen gehört. Zu jedem Einzelnen von ihnen, egal wie der Glaube heißt, dem sie angehören.«
    Danach weinte Garbrand und sagte, für ihn sei es zum Fluch geworden, dass er einmal Mönch gewesen war und es hier keiner wissen durfte. »Schon deshalb kann ich nicht sein, wer ich bin, guter Freund. Nur bei dir darf ich das. Nur bei dir!«
    Der Wortsammler konnte die Worte des Alten nicht erfassen, aber der war traurig, das spürte er. Also legte er seine Hand auf den kahlen Kopf und streichelte ihn so lange, bis die Tränen verebbten und beide in einen tiefen Schlaf fielen.

Amsterdam, 1524
    Das Portal der großen Kirche verschluckt den Meister und wird ihn nur noch einmal ausspucken. Heute Nacht, wenn er zu ihr geht. Heimlich wie ein Dieb, denn er fürchtet sich, ihr in die Augen zu sehen. Er kann ihr nicht widerstehen und ist zerrissen zwischen ihr und dem, was er einst der Kirche gelobte.
    Seine Schritte klingen hohl auf dem Gang, der Stoff seiner Albe streift fast lautlos an der weißen Wand entlang. Nur noch zwei Stundenschläge und

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