Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
Hebamme hatte das Gefühl, dass der Arzt sich Zeit ließ. Er blieb ungewöhnlich oft stehen, besah sich Dinge, die Hiske nicht besonders bestaunenswert fand. »Kann es sein, dass du es nicht eilig hast, die Neustadt zu erreichen, auch wenn dort ein fieberndes Kind wartet?«, fragte Hiske schließlich, denn dieses Trödeln passte nicht zu Jan.
Der blieb stehen und wirkte mit einem Mal merklich angespannt. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, kaute mit den Zähnen auf der Unterlippe. »Es riecht süßlich, findest du nicht? Wie ein Sommer riechen sollte. Es kommt mir vor, als sei die Luft mit Pollen geschwängert, und die verleihen allem das zarte Aroma.«
»Jan, es geht nicht um die Sommerluft, oder?«
»Du hast recht, aber es gibt Dinge, über die ich nur schwer reden kann und will.«
Hiskes Blick suchte seine Augen, die unsicher wirkten. »Du musst mir nichts sagen oder erklären, wenn du nicht willst!«, sagte sie.
Jetzt schaffte es der Arzt, Hiskes Blick standzuhalten. »Ich möchte es dir aber sagen. Du fragst dich bestimmt oft, was mich so anders sein lässt als andere Männer. Ich meine, warum ich nie um eine Frau geworben habe.« Das Licht der sinkenden Sonne brach sich in Jans Haar, das wüst abstand und ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Es passte nicht zu seinem ruhigen und gesetzten Auftreten, das er normalerweise an den Tag legte. Sein Ausdruck jetzt wirkte auf Hiske verletzlich und offenbarte ihr einen tiefen Blick in sein Innerstes, den sie vermutlich nie wieder bekommen würde.
Er wand sich, rang nach Worten. »Ich möchte es dir sagen, Hiske. Ich möchte dir etwas erzählen, was nur ein Mensch auf dieser Welt von mir weiß, weil ich sonst noch keinem so vertraut habe.«
»Garbrand weiß es?«, schlussfolgerte Hiske.
Jan nickte. »Garbrand weiß es. Es ist eine alte Geschichte aus Amsterdam. Die Geschichte eines viel zu stolzen Arztes und einer sehr verletzlichen Frau.«
Hiske sog die Luft ein. Jan hatte also doch ein Weib in Amsterdam. Deshalb konnte er sich nicht auf sie einlassen. Deshalb warb er um keine Frau. »Ich dachte immer, du bleibst auf Distanz, weil ich eine Heilkundige bin mit dem Makel der Toverschen.«
Jan strich Hiske mit der Außenkante des Zeigefingers über die Wange. »Natürlich ist das nicht der Grund.« Noch während er das sagte, hielt er in der Bewegung inne und fuhr zurück, als habe er sich an ihr verbrannt. »Entschuldige.«
Hiske rieb mit der Fußspitze ihres Lederschuhs über die staubige Erde, sodass sich vorn ein grauer Fleck bildete. Sie wartete ab, dabei klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Was wollte Jan ihr sagen? Was belastete ihn?
»Ich war verlobt in Amsterdam«, hob er leise an. »Lieke schien mir die Liebe meines Lebens.«
Hiske tat es weh, als er das sagte. Doch sie schwieg. Er hatte »schien die Liebe meines Lebens« gesagt. Es klang, als sei es vorbei.
»Lieke ähnelte der Marketenderin. Sie hatte ebensolches Haar, das dem Feuer glich. Ihre Augen waren grün wie die einer Katze.« Jan machte eine Pause und betrachtete Hiske, anscheinend wollte er sehen, wie diese Worte auf sie wirkten.
Die zuckte zurück, als habe die Spitze eines Schwertes sie durchbohrt. Doch Hiske zwang sich, ruhig zu bleiben. Keinesfalls wollte sie ihm zeigen, dass seine Worte sie trafen. Was wollte Jan ihr sagen? Dass sein Herz längst dieser Duuvke gehörte, weil sie seiner Verlobten glich?
»Ich glaube, wir sollten nun gehen, das kranke Kind braucht unsere Hilfe«, sagte Hiske und hoffte, er bemerke das leichte Wackeln ihrer Stimme nicht. Sie würde sich von keinem Mann mehr verletzen lassen, weder körperlich noch seelisch. Nach Remmer von Seediek und dem Scharfrichter von Jever hatte sie diesen Gedanken fest in sich verankert. Es hatte bislang nicht einen Mann gegeben, der wirklich gut zu ihr war, und der, von dem sie es gehofft hatte, machte ihr gerade eine solche Offenbarung. Sie würde sich jetzt auf den Weg machen und das Kind retten. Das war ihre Aufgabe, und Jan … Jan sollte doch tun und lassen, was ihm beliebte.
Sie lief los, ließ den Arzt stehen und drehte sich auch nicht um, als er ihr nachrief: »Bleib stehen, Hiske, du hast das ganz falsch verstanden! Hiske, ich bin noch nicht fertig, so warte doch!«
Die Hebamme aber wartete nicht.
Garbrand sah Hiske und Jan nach, als sie in den beginnenden Abend verschwanden. Er wusste, dass er Jan verloren hatte, aber eben nur auf die Art und Weise, wie er ihn ohnehin nie hätte haben können. Von daher blieb
Weitere Kostenlose Bücher