Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
in ihrer Unterlippe vergraben, ihr Kinn zitterte, als versuche sie verzweifelt, nicht zu weinen. Krommenga grinste. Er liebte es, wenn sie litt. Nun würde er es wagen, sich ihr in den Weg zu stellen. Er wollte sehen, ob sie ihn erkannte, wollte ihr nah sein, sie riechen. Das würde seine Vorfreude erhöhen. Es war wunderbar, dass er Zeit hatte. Klaas beschleunigte seinen Schritt und war froh, trotz des fehlenden Beines so beweglich zu sein.
Genau an der Kreuzung trafen sie aufeinander. Zuerst sah Hiske nicht auf, zu tief hing sie ihren Gedanken nach. Doch Krommenga stellte sich ihr so in den Weg, dass sie nicht umhin kam, ihn zu bemerken.
»Moin«, sagte sie und wollte sich an ihm vorbeiwinden, doch das ließ Klaas nicht zu.
»Moin, junges Weib. Wohin des Weges?«
»Kennen wir uns?« Hiskes Blick wanderte an seiner Brust aufwärts, verharrte einen Moment an seinen Augen. Ihr Körper spannte sich an wie die Sehne eines Bogens. Sie trat einen Schritt zurück, bemerkte das fehlende Bein, und ihre Anspannung wich merklich.
Klaas rührte sich nicht vom Fleck. Wartete, lauerte.
Immer noch taxierte Hiske ihn. Klaas bemerkte, dass sie die Luft anhielt, sah das Flackern in ihrem Blick. Er lächelte, denn sie erkannte ihn nicht. Es war nur ein Ahnen, und das genügte ihm vorerst. Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und ließ die Hebamme vorbei, die sofort weitereilte. »Einen schönen Tag noch!«, rief er ihr nach.
Hiske wandte sich nicht mehr um. Sie beschleunigte ihren Schritt, und Klaas erkannte, dass sie fürchtete, den Teufel im Rücken zu haben.
Amsterdam 1530
Das Kind muss ins Findelhaus«, hört es eine Stimme sagen. »Ist es ein Junge oder ein Mädchen? An der Kleidung kann man es nicht erkennen.«
Das Kind kann nicht antworten, will nicht antworten.
»Wie alt mag es sein?«, fragt eine andere Stimme.
Es wird gezerrt und gezogen, jeder will etwas wissen.
»Das Medaillon. Mutters Medaillon, der Meerkristall«, flüstert es, aber das hört keiner. Das Kind sieht, wie sie die Mutter wegbringen. Zugedeckt, und doch kann es die Grausamkeit sehen. Mutters Arm schiebt sich unter dem Laken hervor. Kleine rote Tropfen sind daran herabgeronnen, haben Punkte und Linien auf der Haut hinterlassen.
Als keiner achtgibt, steht das Kind auf und sucht nach dem Meerkristall. Es hat keine Ahnung, wo Mutter ihn aufbewahrt hat. In der Truhe liegt er nicht mehr. Das Kind weiß selbst nicht genau, was es mit dem Medaillon will, weiß nicht, ob er Gutes oder Böses bringt. Vielleicht gibt der Kristall ein Zeichen und hat Erbarmen mit dem kleinen Kind, das nun durch die Welt treibt wie ein dünner Grashalm, der von einer Windböe abgerissen wurde und keine Wurzeln mehr hat. Ich muss ihn finden, finden, finden …, dröhnt es durch den Kopf des Kindes.
Das Medaillon aber bleibt verschollen. Das Kind ahnt, was geschehen ist. Der Mann hat es. Der letzte Mann, der ihm auf der Treppe entgegengekommen ist und der dieses böse Grinsen im Gesicht hatte. Mutter ist für den Kristall gestorben. Für den Kristall und die Eisträne, die ihr Leben hatten schützen und vor allem Bösen bewahren sollen.
»Komm, Kind, für dich gibt es hier nichts zu holen. Deine Mutter war nichts und hatte nichts!« Verachtung macht sich in den Worten breit.
Das Kind wird am Arm gezerrt, fast gerissen. Keiner kümmert sich um die Tränen, die über sein Gesicht laufen. Keiner macht sich die Mühe, sie abzuwischen, sodass sie schließlich festtrocknen und auf der Haut spannen.
»Wie heißt du denn überhaupt?« Wieder eine Frage, die es nicht beantworten will. Es sieht die Frau aber an, die sie das fragt. Ihre Augen sind grau, ohne Glanz, und sie sieht aus, als habe sie lange aufgehört, an das Gute im Leben zu glauben. »Willst du es nicht sagen? Dann eben nicht.«
Das Kind schweigt. Es hat keine Mutter mehr. Es hat kein Zuhause mehr. Es hat keinen Namen mehr.
9. Kapitel
Anneke knetete ihre Hände. Immer wieder fanden sich ihre Finger zu einem Spiel zusammen. Ein Spiel, das nicht harmlos war, ein Spiel, das ihre Gelenke knacken ließ. Anneke hatten die letzten Tage sehr deutlich gemacht, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte. Erst dieser Satan, der mit dem Schiff angelandet war und seine Feuerkrallen sofort nach ihnen ausgestreckt hatte, bis die schließlich im Wasser des Schwarzen Bracks erloschen waren. Dann Linas Schwangerschaft. Das Mädchen war so dumm. Warum hatte sie Anneke nichts gesagt, sondern war selbst zu Werke gegangen, hatte
Weitere Kostenlose Bücher