Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
nicht einmal die Engelmacherin zurate gezogen. Anneke wusste, wo sie lebte, und sie hätte Lina dorthin geschickt. Es war ein Stück des Weges, es hätte sie ein paar Schap und etliches mehr gekostet, aber sie selbst und ihr Gewerbe wären nicht in Gefahr geraten. Die Engelmacherin lebte weit draußen im Hammrich, kurz vor Schortens, alles wäre nicht schwierig gewesen.
Annekes Fingerglieder waren weiß verfärbt, ihr Handballen hingegen zeigte blutig rote Halbmonde, weil ihre Fingernägel sich schmerzhaft in die Haut pressten. Sie war alle Möglichkeiten durchgegangen, die sie hatte, dann war ein Entschluss in ihr gereift. Sie wollte Hiske noch einmal auf den Zahn fühlen, ob sie sich an ihr Versprechen hielt. Linas Zustand schien sich zu verbessern, sie konnte es wagen, für eine Weile aus dem Haus zu gehen. Grieta hatte sie verboten, in den nächsten Tagen Männer zu empfangen, es war gefährlich, das unter diesen Umständen zu tun. »Lasse niemanden ein!«, befahl sie. »Wir müssen äußerste Vorsicht walten lassen, ich will nicht, dass herauskommt, was mit Lina geschehen ist.«
Grieta war nicht damit einverstanden. »Ich habe gehört, dass Krechting nach Emden gereist ist, da kann uns doch keiner auf die Schliche kommen. Wir brauchen jeden Schap, das weißt du selbst.«
»Es ist zu gefährlich. Womöglich kommt noch wer darauf, dass der Kaufmann sich eine Nacht vor seinem Tod bei uns aufgehalten hat. Dann sind wir, vor allem du und Lina, geliefert. Er war bei euch in der Kammer, ihr habt ihn bedient!«
»Er ist über Lina gestiegen, nicht über mich. Aber wer sollte schon vermuten, dass er sich bei uns Huren erleichtert hat?«
Anneke schüttelte den Kopf über so viel Dummheit. »Hör mir gut zu, Grieta: Auch wenn Krechting fort ist, so gelten doch seine Gesetze. Wolter Schemering ist jetzt verantwortlich, und er ist in der Hinsicht wie ein geifernder Köter. Gerade jetzt, wo sein Ohm nicht da ist, wird er sich damit hervortun wollen und ganz besonders streng sein. Weiter hat Krechting diesen Lübbert Jans Kremer, einen Reformer, wie Hebrich es sich wünschen kann, bestellt. Was glaubst du wohl, was los ist, wenn sie von unserem Treiben Wind bekommen?«
Grieta verzog sich schmollend in die Ecke.
»Gib du auf Lina acht. Ich bin bald zurück.« Anneke schlug sich das Tuch um den Hals und trat zur Tür hinaus.
Die meisten Bewohner der Neustadt hatten sich bereits zurückgezogen, lediglich zwei Häuser weiter klopfte der Zimmermann noch einen letzten Sparren an das Dachgerüst. In den nächsten Tagen würden drei weitere Häuser fertig werden. Der Burghof leerte sich Tag für Tag, während die Neustadt wuchs und sich schon bald zu einem beachtlichen Handelsflecken mausern sollte, wenn man der Obrigkeit Glauben schenken durfte. Bis zur endgültigen Fertigstellung des neuen Siels dauerte es auch nicht mehr ewig, und damit würde sich das Leben in der Neustadt ändern und lebendiger werden.
Doch im Augenblick war all das nebensächlich. Sie musste sich zunächst darum kümmern, dass Hiske Aalken ruhig blieb, denn sonst würde sie, Anneke, diesen Aufschwung bestimmt nicht mehr erleben.
Gerade, als sie um die Ecke bog, lief sie einem Mann in die Arme, der mit gutem Tuch bekleidet war, aber ein Bein nachzog. Sein Gesicht war von Narben übersät. Anneke kannte ihn nicht, musterte ihn aber interessiert, als er sich vor ihr aufbaute.
»Anneke Hollander, wenn ich nicht irre?«, fragte er, und seine Stimme war merkwürdig weich und angenehm. Doch sie wirkte verstellt, nicht so, wie sie eigentlich zu dem Mann passen würde.
»Ihr irrt nicht, werter Herr«, antwortete Anneke. »Wie kann ich Euch helfen?«
»Der Bader nannte mir Euren Namen und gab kund, wo ich Euch in der Neustadt finde.«
Anneke zuckte innerlich zusammen. Sie war auf der Hut, denn wenn der Bader ihr einen Mann schickte, waren das meist Kunden. »In welcher Mission seid Ihr auf dem Weg zu mir?«
Über das Gesicht des Mannes glitt ein Grinsen, das man durchaus als teuflisch bezeichnen konnte. »Ich komme wegen der Hebamme.«
Anneke zog fragend die Brauen hoch. »Was habt Ihr mit Hiske Aalken zu schaffen, und wie ist überhaupt Euer werter Name?«
»Der tut nichts zur Sache. Ich möchte Euch einen Handel vorschlagen, weil ich sicher bin, dass wir ähnliche Ziele verfolgen.«
»Welche sollten das sein?« Annekes Anspannung wuchs. Was wollte der Fremde?
»Nun, ich habe gehört, dass Ihr der Hebamme nicht wohlgesonnen seid, weil sie Euch den Mann
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